Working Class Heroes
Die Arctic Monkeys haben einen Zug ins Rollen gebracht, dem selbst Englands Hype-Maschinerie nur mit Mühe hinterherkommt.
TEXT CHRISTOPH LINDEMANN Kirchen, Pubs und Friseur-Sahne“ prägen nach Auskunft der Arctic Monkeys das Stadtbild und die Menschen ihrer Heimatstadt High Green. Der Vorort von Sheffield ist als sozialer Brennpunkt bekannt, in dem die Polizei beständiggegen Vandalismus und die Bandenbildung von „rowdy young people“ kämpft. Wer kann, läßt diese Tristesse so schnell es geht hinter sich.
„Im Januar hab ich dort noch Aufnahme-Formulare für Universitäten ausgefüllt“, sagt Alex Turner (20) in einem Hotel in London und schiebt sich einen Balisto-Riegel in den Mund. Am Tag unseres Gesprächs im Oktober ist das Gesicht des schmalen, unauffälligen Jungen in allen großen Tageszeitungen der Stadt abgebildet. Die Arctic Monkeys, die Alex 2002 mit seinen Schulfreunden Jamie Cook (19), Andy Nicholson (19) und Matt Helders (19) gegründet hat, werden am Abend einen Auftritt spielen, der zweimal jeweils in eine größere Halle verlegt wurde und bereits im Vorfeld von vielen als „historisch“ bezeichnet wird. Niemand – auch nicht die zahlreichen Fans, die vor der Halle bis zu 100 Pfund für ein Ticket bezahlen – weiß Anfang Oktober, wie das Debüt klingen wird, denn die Band hat lediglich eine Single („Five Minutes With The Arctic Monkeys“) auf den Markt gebracht. Trotzdem ahnt fast jeder, der ihre Entwicklung beobachtet und die Demo-MP3s gehört hat, die seit Ende 2004 im Internet zu finden waren, daß die Arctic Monkeys vor einem gewaltigen Durchbruch stehen. Innerhalb nur weniger Monate hat sich die Band zu einem Pop-Phänomen entwickelt, auch wenn sie sich selbst davon nicht aus der Ruhe bringen läßt. „Wir können immernoch studieren, wenn das hier nichts wird“, meint Bassist Andy Nicholson schulterzuckend.
Wenige Stunden vor dem wichtigsten Auftritt ihrer Karriere müssen die vier Jungs noch der internationalen Presse Rede und Antwort stehen. Im Umgang mit Journalisten ungeübt antworten sie auf Fragen oft einsilbig und fallen sich gegenseitig ins Wort. Auch die Rollen sind noch nicht verteilt: Alex Turner sucht sich einen Platz, der möglichst weit vom Mikrophon entfernt ist, ergreift dann aber doch meist selbst das Wort. Nicht alles, was er sagt, ist verständlich, da seine Kollegen gleichzeitig reden, geräuschvoll Nasenschleim in den Rachen saugen und mit Süßigkeiten-Verpackungen rascheln, „jeder einzelne von uns ist vielleicht nicht der beste Musiker“, meint Alex. „Aber das ist auch gut so. Es ist gefährlich, wenn du an deinem Instrument zu virtuos… “ – „Genau wie beim Fußball. Es kommt auf das Team an. Man muß zusammenspielen“, unterbricht ihn Gitarrist Jamie Cook. „Du kannst die vier besten Musiker aller Zeiten in ein Zimmer sperren und du hättest doch nicht die beste Band“, ergänzt Alex. „Deshalb ist es gut, wenn man zusammen übt und gemeinsam besser wird …“
Die Geschichte der Arctic Monkeys begann Weihnachten 2002, als Alex und Jamie von ihren Eltern Gitarren geschenkt bekamen. Wenig später fanden die
ersten Proben mit Andy und Matt statt, in denen der Bandname ausgesucht – man bediente sich bei der Gruppe von Matt Helders Vater, der vor Jahrzehnten bei den „Arctik Monkeez“ spielte – und an der Entwicklung eines eigenen Sounds gearbeitet wurde.
„Wir haben versucht, wie niemand sonst zu klingen: ,Oh, Moment, das klingt nach den Strokes, laß uns damit aufhören.‘ Obwohl wir große Strokes-Fans sind“, erzählt Jamie. Alex nickt: „Und dann klangen wir plötzlich wie wir selbst. So richtig ist uns das aber erst klargeworden, als wir neulich ein Instrumental für eine B-Seite aufgenommen haben. Das war nur ein Riff, aber es klang sofort nach den Arctic Monkeys. Da haben wir gemerkt, daß wir wirklich etwas Eigenes hervorgebracht haben“
Ihren ersten Auftritt spielten die Arctic Monkeys in dem Sheffielder Untergrund-Club The Boardwalk, in dem Alex und Andy als Barkeeper arbeiteten. „Die Jungs brachten frischen Wind in den Laden „, erinnert sich Chris Wilson, der Konzertveranstalter der Kneipe: „Es hat mich an die frühen Ian Dury and the Blockheads erinnert, weil sie Texte über typisch englische Sachen geschrieben haben.“ Da weder dieser noch die nächsten Auftritte der jungen Band allerdings besonders gut besucht waren, beschlossen die vier Schulabgänger Ende 2004, über ihre Website Songs als MPjs zu verschenken. „Wir haben uns gedacht, daß wir die Demos lieber an Fans als an Plattenfirmen weitergeben – damit die Konzerte besser werden“, so Alex. Die Rechnung ging auf: Die Clubs wurden 2005 von Show zu Show größer und bald war das Publikum so textsicher, daß fast alle der unveröffentlichten Songs mitgesungen wurden.
Ein Faustkampf bricht im Astoria vorder Bühne genau in dem Augenblick aus, in dem das Licht erlischt. Sekunden später haben ihn die Randalierer selbst vergessen, denn die hinteren Reihen in dem mit über 2000 Leuten ausverkauften Saal schieben vehement nach vorne, als die Arctic Monkeys zu den Klängen von „Xxplosive“ von Dr. Dre auf die Bühne kommen. Bei den ersten Takten von „I Bet You Look Good On The Dancefloor“ wogt die Menge unkontrolliert hin und her, bis sich in den vorderen Reihen rot angelaufene Teenager aus dem Gedränge ziehen lassen. Die vier Bandmitglieder tragen dieselben Turnschuhe, Pullover, T-Shirts und Trainingsjacken wie noch beim Interview und spielen ihren Hit mit einer Lässigkeit durch, die für Jungs in diesem Alter im Angesicht des Wahnsinns, der sich vor ihren Augen abspielt, verboten sein müßte. Und sie sind dreist: Der zweite Song ist „Fake Tales Of San Francisco“, womit die beiden bekanntesten Titel nach gut sechs M inuten verheizt wären. Doch die Spannung läßt nicht nach. „Still Take You Home“ und „From The Ritz To The Rubble“ werden gefeiert und mitgegröhlt, als ob es sich um alte Klassiker handelte. Die Qualität der Songs ist bestechend – wie auch bei den Libertines kommen die Hits mit einer Beiläufigkeit, als hätte die Band sie nach einer durchwachten Nacht mehr oder weniger versehentlich auf den Gehsteig gekotzt – und auch die Präsentation ist souverän. Alex Turner ist weder schüchtern noch arrogant, er gibt sich auf der Bühne ganz und gar natürlich. Als Bassist Andy raus muß, weil er Nasenbluten hat, steht die Band einfach reglos – und dabei keineswegs unlocker – auf der Bühne und wartet. Auch das Publikum beruhigt sich, bis sich eine bizarre Stille über die Menge legt. Die Situation könnte peinlich oder wenigstens unangenehm sein, doch sie ist es nicht. Nach einer gefühlten Minute des Schweigens tritt Alex ans Mikro und sagt: „Wir sind in unserer Beziehung an einem Punkt angekommen, an dem wir uns einfach nichts mehr zu sagen haben.“
Als er ein paar gefeierte Songs später das Publikum ermahnt, bitte keine Bierbecher mehr durch den Saal zu schleudern, fliegt tatsächlich für den Rest des Abends kein einziger Plastikbecher mehr über die Köpfe. Zum großen Finale stimmt er „When The Sun Goes Down“ an und tritt lächernd einen Schritt zurück, als nach der ersten Zeile die Fans einsetzen und den Song fehlerfrei nach Hause singen.
In den Augen vieler ist das zu lesen, was alle großen Bands auf dem Weg nach oben in ihrer Generation hervorgerufen haben: Bewunderung, gepaart mit einer gehörigen Portion Neid. Da die Arctic Monkeys keine arroganten Rockstars und schon gar keine Übermenschen sind – Jamie Cook verdiente noch vor einem Jahr sein Geld ais Fliesenleger, Andy Nicholson bezog nach der Schule Arbeitslosen-Stütze -, werden sie in der englischen Presse bereits als Band der Arbeiterklasse gefeiert. Sie vermitteln ein „Auch du hättest bei uns spielen können“-Gefühl und verkörpern damit nicht den amerikanischen, sondern den englischen Traum: Wenn du verdammt viel Glück hast, kannst du dem harten Arbeitsalltag ein für alle mal entkommen.
Kurz nach dem Auftritt im Astoria erschien „I Bet You Look Good On The Dancefloor“ als Single. Der Track war bereits tausendfach heruntergeladen worden und stieg doch mit fast 40.000 verkauften Einheiten auf Platz eins in die englischen Charts ein. Mel Armstrong, der „Rock und Pop Manager“ der Ladenkette HMV, prognostiziert für das Debüt Verkaufszahlen in der Liga der Kaiser Chiefs und Franz Ferdinand. Und auch in New York waren die ersten beiden Shows ausverkauft, obwohl eine davon von der Mercury Lounge in den größeren Bowery Ballroom verlegt wurde. Wer soll die Arctic Monkeys aufnalten? Sie selbst? „Sei ehrlich – wir sind die Macaulay Culkins in diesem Spiel. Auf uns lastet der Kinderstar-Fluch „, sagte Matt Helders im Herbst der Zeitung The Guardian. „Genau: mit 25 – Boom!“, „meinte Jamie und spielte vor, wie er sich den Kopf wegschießt. Jeder verkauft besser, wenn er sich eine Kugel verpaßt…“ www.arcticmonkeys.com