Wie, Sie kennen Still Life nicht?


Verständlich. Denn das selbstbetitelte Album von Still Life ist mit Sicherheit die mysteriöseste und seltenste Platte, auf die das „progressive“ Kult-Label Vertigo (zu dessen Klienten neben Black Sabbath und Rod Stewart auch so Prominente wie Cressida, Fairfield Parlour, Affinity, Gracious, Ramases, May Blitz und die „echten“ Nirvana zählten) je seine berühmte Spirale drucken ließ – wenn nicht eines der rarsten Alben überhaupt. Zwar wurde „Still Life“ mehrmals auf CD wiederveröffentlicht, aber leider stets ohne Begleitinformation – die wir hiermit liefern:

Die geheimnisvolle Geschichte begann 1963 in Coventry mit der Band The Sabres, die sich 1965 in The Peeps umbenannte und sich mit Motown-Bearbeitungen mehr schlecht als recht über Wasser hielt. Neben Sänger Martin Cure und Bassist Graham Arnos gehörten Drummer Paul Wilkinson und Gitarrist Roy Albrighton zum festen Line-up, das sich nach fünf Singles in The Rainbows umtaufte und zwei weitere Singles für CBS einspielte mit einem zunächst namenlosen Keyboarder. Der hieß Terry Howells, hatte zuvor bei der Ray King Soul Band gespielt und begleitete The Rainbows für einige Gigs nach Hamburg. In Deutschland gefiel es Albrighton indes so gut, dass er gleich da blieb und später mit Nektar einigen vergänglichen Ruhm erntete. Das verbliebene Quartett war nach der Rückkehr nach England nur noch ein Trio, weil sich Drummer Wilkinson bei der Band Flying Machine größeren Erfolg erhoffte (vergeblich).

Arnos, Cure und Howells beschlossen, ganz neue Wege zu gehen, und bastelten unter dem Namen Still Life an einer Art Progressive-Proto-Metal ohne Gitarren, dafür mit grandiosen Hammond-Passagen und höchst verfeinerten Gesangsharmonien, was ihnen in der experimentierfreudigen Aufbruchsstimmung des neuen Jahrzehnts einen Plattenvertrag einbrachte, obwohl neben der Gitarre auch der dringend benötigte Trommler fehlte. Eine Woche vor Beginn der Aufnahmen sprang schließlich Studio-Crack Alan Savage ein, schaffte sich das nicht ganz unkomplizierte Repertoire drauf, und im Oktober 1970 entstand in den Sound Recordings Studios am Londoner Marble Arch das Album, das Anfang 1971 in einem schmucken Gatefold-Sleeve erschien, mit witzigen Liner-notes („Complaints by: Noise Abatement Society“), aber ohne Erwähnung der Musiker und des Produzenten Stephen Shane und mit einem Photo, das Cure und Arnos mit zwei Musikern der ebenfalls aus Coventry stammenden Band Indian Summer zeigte!

Obwohl „Don’t Go“ und „Love Song No. 6“ auf dem Sampler „Superheavy Vol. 1“ vertreten waren, erregte Still Life kaum Kassenklingeln. Zwar sah der Vertrag mit Vertigo sechs Alben vor, aber der Misserfolg des Debüts nahm den Musikern den Mut; noch im selben Jahr gingen sie getrennte Wege. Cure, dessen Stimme gerne mit der von Stevie Winwood und Gracious-Sänger Paul Davies verglichen wurde, wechselte zur Gruppe Cupid’s Inspiration, mit der er immer noch ab und zu auftritt, wenn er nicht mit seiner P.A.-Firma beschäftigt ist. Howells lebt heute in der Schweiz, Savage nach wie vor in seiner Heimat Northampton, und Graham Arnos starb Ende Mai 2003.

Zwei Fragen bleiben offen: Wer waren die Still Life, die 1968 die Single „What Did We Miss/My Kingdom Cannot Loose“ veröffentlichten? Und welche Band gleichen Namens war 1974 als Support der Edgar Broughton Band zu hören?