Jahresrückblick

Wenn die Retro-Manie zur Epidemie wird


Die „Retromania“ der letzten Jahre ist zu einem vielköpfigen Monster geworden, das still und heimlich das Kommando über den Kulturbetrieb übernommen hat.

Neulich, irgendwo in einer Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg. Abschiedsparty, jemand zieht nach Hamburg, auf dem Balkon stehen die Raucher und sechs Bierkästen, in der Küche ein Kuchen. Es läuft HipHop und R’n’B, die Gäste versammeln sich in den Ecken des großen Wohnzimmers, nur ab und zu bewegen sie zaghaft einen Fuß, als wollten sie mit den Zehen die Temperatur eines imaginären Pools erfühlen. Bis dieser eine Song kommt. „Africa“ heißt er, er stammt von Toto, er verstopft seit Dekaden das Formatradio, bisher standen ihm die meisten Leute eher leidenschaftslos entgegen. Das ist ganz offenbar vorbei. Die Tanzfläche ist voll. Befreundete DJs betrachten das längst als ein Phänomen. Die Party ist scheiße? Egal, ob du HipHop- oder Indie-DJ bist, lege diesen Song auf, der weder mit HipHop noch mit Indie auch nur das Geringste zu tun hat, und alles renkt sich wieder ein.

Die Vergangenheit ist mittlerweile zu einem Reservoir geworden, aus dem die zeitgenössische Popkultur scheinbar mit angelegter Augenbinde schöpft.

Das Interessante daran ist: Kaum einer der Partygänger wird einen anderen Song von Toto benennen können. Der Erfolg des Stückes ist ein singuläres Phänomen. Wo frühere Retro-Schleifen einen theoretischen Unterbau hatten – wer Britpop hörte, konnte sich darüber bei den Small Faces & Co. einarbeiten, Amy-Winehouse-Fans lernten eine Menge über Soul, selbst die letzte große R’n’B-Welle um Banks und Jessie Ware war noch historisch verortet –, ist die Vergangenheit mittlerweile zu einem Reservoir geworden, aus dem die zeitgenössische Popkultur scheinbar mit angelegter Augenbinde schöpft.

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So marschiert sie im Gleichschritt mit der Gegenwart zu ein und derselben Thesenmelodie: Es geht um Zersplitterung, um Mikro-Trends mit geringer Halbwertszeit, um ein kleinteiliges „Alles ist erlaubt“, das im Pop zu folgendem Zustand führt: Während die großen Alben der letzten Dekaden Wiederveröffentlichungen erfahren (Hüsker Dü, Eagles, Alan Parsons – was für eine Reihe!), werden für die VOX-Sendung „Sing meinen Song“ Alphaville wieder ausgegraben. Universal schickt mit The Night Game eine Band ins Rennen, die klingt, als würden REO Speedwagon Killers-B-Seiten covern, Alex Cameron macht Ähnliches in gut. Superorganism mopsen für ihr „Something For Your M.I.N.D.“ die Spoken-Word-Parts einer House-Hymne. Andere nutzen die Vergangenheit als Steinbruch für ihre Terminologie: Post Malones Nummer-eins-Hit „Rockstar“ hat mit Rock ebenso wenig zu tun wie Rae Sremmurds „Black Beatles“ mit den Fab Four.

Ist diese Entwicklung schlimm? Oder ist sie schlichtweg? Und liegt jenseits aller Bewertungsmöglichkeiten, wie ein Dschungel, durch den man sich eigene Schneisen schlagen muss, um schließlich an Orte zu gelangen wie eben „Africa“? Der Toto-Hit hat übrigens längst eine Verankerung in der Gegenwart gefunden: Ein beliebtes Tattoo dieser Tage zeigt den Bandnamen neben dem Umriss des Kontinents, was wiederum als Querbezug zur Rastafari- und zur Native-Tongue-Bewegung zu sehen ist, die mit Toto natürlich überhaupt nichts zu tun hat. Dekontextualisierung. Wieder so ein Trend, siehe auch die Bastard-Pop-Shirts zu den Smiths oder Joy Division. Aber das ist eine andere Geschichte.