Weltmusik
Der Mechanismus ist unerbittlich: Kaum gibt es neue musikalische Impulse, werden sie durch den Industriellen Fleischwolf gedreht. Der "Weltmusik" erging es nicht anders; Von trendgeilen Medien entdeckt, von hellhörigen Plattenfirmen glattgewalzt, droht dem Musik-Boom aus der Dritten Welt der klassische Overkill. ME/Sounds-Mitarbelter Jean Trouillet hält ein Plädoyer für den weiteren Kulturaustausch und stellt schlleßlIch eine Doppel-LP vor, die mit voller Absicht die ausgetrampelten Pfade vermeidet.
Kein Zweifel, das Pop-Jahr 1988 war durchaus für ein paar Überraschungen gut. Wer hätte gedacht, daß der 60er-Jahre-Folk a la Bob Dylan sein Wollsocken-Ghetto je wieder verlassen würde, gar mit Chapman/ Shocked/Tikaram in die Charts klettern würde? Und erstmal die Outsider der Saison, die von niemanden vorausgeahnten Treffer aus dem Stand: Ofra Haza und Mory Kante.
Mit ihnen machte auch ein neuer Begriff die Runde: Ethno-Beat. Ein gräßliches Wortgebilde mit fast schon rassistischem Unterton, das außereuropäische Musik reduzierte auf den Beat geschlagener Trommeln. Eine Sichtweise, die afrikanische Musiker z. B. entsetzt: „Die meisten Menschen mit westlichem Denken“, so Manu Dibango, „wollen Afrika als Museum erhalten. Sie wollen Afrika Tarn Tarn spielen lassen, weil Afrika in ihren Augen Tarn Tarn ist – und Affen und Schlangen. Aber sie begreifen nicht, daß wir auch mit Elektronik umgehen können. Ich denke, daß es das Allerwichtigste ist, diesen Leuten klarzumachen, daß es das elektrische Afrika qibt!“
Schön und gut, aber was nutzt uns das Wissen um ein elektrisches Afrika, wenn wir es nicht zu Gehör bekommen. Während die westlichen Medien die stromlinienförmige anglo-amerikanische Popmusik via Satellit in das letzte balinesische Dorf tragen, haben die Künstler von dort kaum die Möglichkeit, uns ihre Musik vorzustellen. Dabei bedienen sich die Musiker in unseren Breiten gerne im Gemischtwarenladen der verschiedenen Rhythmen und Stile aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik. Ferne Klänge werden mit modernster Sampler-Technik in die eigenen Werke implantiert. Ein Austausch findet dabei nicht statt.
Die bisher einzige Künstlerin, die von diesem Klau profitiert hat, ist Ofra Haza. Und Klau ist es, solange die Quellen nicht auf dem Plattencover genannt sind.
Doch der Popmarkt ist nicht nur voll von Freibeutern. Musiker wie z. B. Brian Eno, David Byrne, Jon Hassel oder Peter Gabriel legen Wert darauf, die Quellen ihrer musikalischen Inspiration offenzulegen und treten mit Künstlern der „Dritten“ Welt gemeinsam auf. Sie wollen, wie Gabriel sagt, ein bißchen von dem, was sie sich leihen, zurückgeben.
Wer sich nun auf musikalische Entdeckungsreise machen will, benötigt einen Kompaß. Den liefern uns die Briten. Im Wissen, daß die Plattenhändler für jede Musik eine Schublade brauchen, kamen kleinere Label in England auf die Tdee, ihre Produktionen, die sich nirgendwo so richtig einordnen lassen, unter dem Markenzeichen Worldmusic überall zu vertreiben.
Weltmusik, ein Wort, das nun auch bei uns die Runde macht. Und das wird alles darunter gepackt: Folklore, lokale Popmusik, die sich häufig aus der traditionellen Musik entwickelte, sowie Mischformen wie die Fusion von euro-amerikanischen (Pop-)Traditionen mit ethnischer Musik. Also alles von den Gesängen der australischen Aborigines bis zur GRACELAND-LP von Paul Simon.
In Berlin wurde in diesem Sommer flugs das erste deutsche „Weltmusik-Festival“ organisiert: Von Cheb Kader, der neuen Hoffnung der algerischen Rai-Musik, über die Three Mustaphas Three, alte Worldmusic-Mix-Routiniers, bis hin zum Moluccan Moods Orchestra, einer Molucker Gitarren-Band, gaben sich Acts aus aller Welt ein Stelldichein. Das „Heimatklänge-Festival“ knüpft an Veranstaltungen an, wie sie in Frankreich oder England schon seit Jahren existieren. Während hierzulande die Hörer von Volksmusik oder ethnischer Popmusik oft noch als Alt-Hippies oder Folklore-Dogmatiker belächelt werden, finden unsere europäischen Nachbarn schon lange nichts mehr dabei, zum Sound bulgarischer Ländler-Kapellen oder Rai-Bands zu tanzen. Doch bei aller Bewunderung für die Londoner und Pariser Moden darf man nicht vergessen, daß es auch in Deutschland eine Szene gibt, die lateinamerikanische oder indische Musik hört und von den
KULTUR-MIX
„Was die Fließband-Musik betrifft, so haben wir den Punkt der Sättigung erreicht. Wir sind auf der Suche nach Reinheit. Das heißt aber noch lange nicht, die Möglichkeiten der Technologie und der Elektronik auszuschließen. Die meisten musikalischen Trends haben die Tendenz, alles Vorhergewesene wegzuräumen. Diese hier hingegen möchte alles verdauen. Sicher, ich liebe unvermischte Musik, gleichzeitig aber auch den Bazar-Exotismus, diese alten Filme und die kaum beschreibbare Art, wie Hollywood in den 50er Jahren afrikanische und asiatische Filmmusik fabrizierte.“ Jon Hassel Tatsächlich wurde schon früher erstaunliche Weltmusik produziert, die noch heute Kultstatus hat. Die Düsseldorfer Synthie-Tüftler Der Plan, schon seit langem auf der Suche nach einer neuen deutschen Volksmusik, haben in einem schrägen Vogel namens Martin Denny eines ihrer Vorbilder. Denny und seine Musiker produzierten einen aberwitzigen Mix von afro-kubanischer Perkussion, Candomble-Rhythmen aus Brasilien, „El Condor Pasa“-Flöten aus Peru, buddhistischer Tempelmusik, wehmütigen Melodien aus Japan, Vögelzwitschern, Affenschreien und Musik der Heimat Dennys, Hawaii. Mit dieser bizarren Folk-Mixtur war er sogar erfolgreich. Kein Wunder, damals hatte man noch kein Geld, um Weltreisen zu unternehmen, sondern mußte seine exotischen Träume mit Schallplatten oder Filmen befriedigen. Martin Denny war kein Dilettant, sondern experimentierte an einer durchaus ernstgemeinten Weltmusik. Eine „imaginäre Folklore“ wurde damit erschaffen.
So bezeichnen auch die von Brian Eno produzierten Penguin Cafe Orchestra ihre Klanggemälde. Ihre musikalischen Kabinettstückchen basteln sie aus verschiedensten Volksmusiken zusammen: keltische, karibische, japanische, Cajun, afrikanische, barocke und südamerikanische Elemente, nicht zu vergessen die Minimal- und Avantgarde-Einflüsse. Das Penguin Cafe Orchestra entführt uns in Soundlandschaften, die man genausowenig auf der Landkarte finden kann wie Szegerely, die Heimat der Three Mustaphas Three. Gleich eine ganze neue Welt erfanden Brian Eno und Jon Hassel. Ihre Rechnung lautet: Erste Welt plus Dritte Welt gleich Vierte Welt. „In der Vierten Welt“, so Jon Hassel, „gibt es keinen Kolonialismus, keine Plünderungen, kein Plagiat mehr. Es ist ein planetarisches Netzwerk, wo Botschaften aufeinandertreffen und Funken der Phantasie erschaffen.“
SCHMELZTIEGEL PARIS
Unzufrieden mit dem Charts-Einerlei (eine neue französische Popmusik a la Rita Mitsouko war noch nicht in Sicht), begannen abenteuerhungrige Pariser, die Tanzveranstaltungen der Emigranten aus dem Senegal, Mali oder der französischen Karibik zu besuchen. Vor allem fasziniert von der afrikanischen Popmusik, bildete sich eine Szene, die Konzerte veranstaltete, Label gründete und mit großer Energie diese Musik in den Medien präsentierte. Magazine wie „Actuel“, die Mutter aller europäischen Lifestyle-Zeitschriften, und die Tageszeitung „Liberation“ schrieben sich die Promotion afrikanischer Popmusik auf ihre Fahnen, ja begannen selber, ganze Konzertserien zu veranstalten. Die damaligen Lieblinge der Szene wie Fela Kuti, King Sunny Ade und Youssou N’Dour feierten hier ihre ersten Erfolge auf europäischem Boden. Toure Kunda oder Kassav verkauften von ihren Platten bis zu 500.000 Exemplare und erreichten mit ihrer Pop-Aufbereitung afrikanischer bzw. karibischer Musik gar das Rock-Publikum. Mit der Befreiung des Äthers entstanden eine ganze Reihe von Radios, die nicht nur die Emigranten-Szene mit Nachrichten und Musik aus der Heimat versorgen. „Radio Nova“, der Sender der Pariser In-People, hatte gleich eine Philosophie mitanzubieten: “ Wenn wir schon das Glück haben, in einer multikulturellen Gesellschaft zu leben, dann sollten wir aus diesem kreativen Potential auch das Beste machen.“
In Paris entstand ein Klima, das Künstler aus ganz Afrika in die Stadt strömen ließ und sie innerhalb weniger Jahre zur Hauptstadt des Afro-Pop machte. Musiker wie Salif Keita, der große Sänger aus Mali, Sam Mangwana aus Zaire oder der vielgepriesene Rai-Sänger Cheb Khaled spielten in den Hightech-Studios an der Seine Produktionen ein, die eine Gratwanderung zwischen Tradition und modernstem Sound wagen. Hier fanden die Talking Heads die Musiker der afrikanischen Diaspora, um das Konzept des NAKED-Albums umzusetzen. Angesichts dieses internationalen Interesses konnten die Franzosen gar ihren Minderwertigkeitskomplex in Sachen Pop vergessen. Die musikalischen Emigranten arbeiten inzwischen auch (u.a. für Bill Laswell) in New Yorker Studios. Die Musik der ehemaligen Kolonien – Exportschlager für den internationalen Musikmarkt. „In der afrikanischen Musik“, so David Byrne, „führt jeder Musiker oder Sänger einen Part aus, der sich streng mit den anderen verschachtelt. Ein Rhythmus, eine Melodie oder ein Gesang haben isoliert vom Ganzen keinerlei Sinn mehr. Und diese Gemeinschaft schließt das Publikum mit ein, das klatschend, singend oder tanzend teilhat.“
Paris im Bann einer Musik, die die Grenzen der eigenen kulturellen Identität überschreitet. So pilgert man nun in die schicken und teuren afrikanischen Discos oder zur Metro-Station Barbes, um die neuesten Rai-Cassetten zu erstehen und kommt sich dabei todschick vor.
WORLDMUSIC-DER NEUE HYPE?
Während Paris mehr die afrikanische und karibische Popszene feiert, haben die Engländer gleich die ganze Welt entdeckt. Radio-DJs wie Charlie Gillet, Andy Kershaw oder auch John Peel stellen in ihren Programmen ebenso die angesagtesten Pop-Bands wie auch die traditionelle Musik unseres Globus‘ vor. Die Zeitschrift „FolkRoots“ ist das einzige Blatt in Europa, das sich ganz dem neuen Trend verschrieben hat.
„Globe Style“, „World Circuit“, „WOMAD“, „Earthworks“, „Hannibal“ oder „Triple Earth“ heißen die kleinen, aber feinen Adressen für den erlesenen Musikgeschmack. Die hohe Qualität ihrer Produktionen besticht. Die Schallplatten sind mit ausführlichen Erklärungen zu Stil und Künstlern auf den Cover-Rückseiten versehen. Schließlich hat nicht jeder Hörer musikethnologische Seminare besucht. Die auf dem Düster-Pop-Label „4-AD“ wieder veröffentlichten „Geheimnisse der Bulgarischen Stimmen“ schafften den Sprung in die Charts und entfachten ein gewaltiges Medien-Echo. Manche Band, wie etwa die Bhundu Boys aus Zimbabwe, erreichten dank John Peels intensiven Airplavs höchste Populantät. Zu ihren Konzerten erscheint der Worldmusic-Fan ebenso wie Otto-Normal-Pophörer.
Es ist eine ungewohnte Art von Integrität, die das westliche Pop-Publikum anzieht. Während der Mainstream-Pop bei der Jagd nach einer ausgefallenen Präsentation die eigentliche musikalische Message weit hinter sich läßt, ist es beim Auftritt einer Band im Sudan völlig unwichtig, ob nur ein Mikrophon zur Verfügung steht. Ein Helfer trägt es eben vom Sänger, der seine Strophe gesungen hat, zu dem Instrument, das gerade das Solo spielt.
Dafür findet eine intensive Kommunikation zwischen Musikern und Publikum statt, wie sie in unserer Populärmusik nahezu vollkommen abhanden gekommen ist. Die Nähe zum Publikum gestaltet sich dabei durchaus erstaunlich materialistisch: Der Künstler bekommt etwa unverblümt Geld auf die Bühne gereicht.
Solche Konzerterlebnisse sind für uns schwer verständlich und gleichzeitig berauschend. Sie verändern unsere Sinne, schärfen unsere Fähigkeiten, den fremden Klängen immer mehr entgegenzukommen.
Das neu erwachte Interesse für Weltmusik ist nicht der letzte Schrei, wie uns das marktschreierische Zeitgeist-Magazine glauben machen wollen. Außereuropäische Musik hat genauso wie europäische Volksmusik schon immer ihre Hörer gefunden. Neu ist, daß Hörer ein Herz für ferne Sounds entdecken. Eine Liebe, die im Radio kaum ihren Widerhall findet. Der Sound unseres Planeten wird noch für mehr als eine Überraschung gut sein. Weltmusik – der Marktplatz, auf dem jeder seine Fähigkeiten und Klangkultur demonstriert. Und bisweilen entsteht als Resultat einer fruchtbaren Konfrontation etwas Neues – ein Mix.