Vorzeitiger Erguss


Weil die Noiserapper Death Grips nicht warten können, leaken sie ihr eigenes Album.

Death Grips klingen, als hätte die Odd Future Crew ihre Skateklamotten für einen Jahresvorrat Badesalz versetzt. Badesalz, das einen die Gesichter anderer Menschen essen lässt. An solche Bilder denkt man unwillkürlich beim Gebell von MC Ride. Dazu liefert Mathrock-Drummer Zach Hill zusammen mit Audio-Engineer Andy Morin den passenden Soundtrack: Ein Gewitter aus gnadenlosen Bässen, schmerzhaften Störgeräuschen, vertrackten Rhythmen und wildem Sampling – ständig schwankend zwischen kaputtem Minimalismus und brachialem Noise. Das Ganze wird in selbst produzierten Videos bebildert, die aussehen wie Horrorfilme von Kunststudenten: erstklassiges Distinktionsmaterial für Hipster. Als Death Grips 2011 ihr erstes Album, Ex-Military, kostenlos ins Netz stellten, überschlug sich die Blogosphäre. Die Verantwortlichen der Sony-Tochter Epic baten das Trio aus dem kalifornischen Sacramento zum Vorstellungsgespräch. Aller zur Schau gestellten Radikalität zum Trotz ließen sich Death Grips zur Unterschrift bewegen und sangen gemeinsam mit den Firmenbossen das alte Lied der ungeahnten Möglichkeiten, der Liebe zur Musik, der künstlerischen Freiheit. Das war Anfang 2012.

Die trügerische Eintracht hielt nicht lange vor. Am 30. September twitterte die Band, „das Label“ habe den Veröffentlichungstermin des neuen Albums No Love Deep Web auf „irgendwann im nächsten Jahr“ verschoben. „Das Label“ werde das Album nun zum ersten Mal hören – zusammen mit der Öffentlichkeit. Seit dem 1. Oktober steht No Love Deep Web auf diversen Plattformen zum freien Download bereit, samt aussagekräftigem Coverfoto: Es zeigt einen erigierten, mit dem vollständigen Titel beschrifteten Penis. Death Grips sind seither in aller Munde. Mit der wachsenden Aufmerksamkeit werden aber auch Zweifel laut: Hat man es hier in der Tat mit wackeren Musikern zu tun, die dem bösen Major einen Stich ins Herz verpassen? Während die Band die Aufregung nutzt, um eine weiträumige Tour anzukündigen, bleibt Epic auffallend untätig. Doch nur ein schlau inszeniertes Pre-Listening? Die Beteiligten hüllen sich in Schweigen. An der Kompromisslosigkeit des veröffentlichten Materials ändert das nichts. Auch die Fragen der Vermarktung von ambitionierter Popmusik im Spannungsfeld zwischen Untergrund und Geschäftsetagen bleiben. Sollte alles nur PR gewesen sein, so war es doch die unterhaltsamste und zugleich wirkungsvollste des Jahres: Death Grips sind eine der interessantesten und aufregendsten Bands zurzeit.

Albumkritik S. 78