Verkannte Kunst (2): Die Kelly Family will der Welt nichts als Liebe geben (und unanständig viel Geld verdienen, wer könnte es ihnen verdenken)
Ein Plädoyer für The Kelly Family: Wem bei Paddys und Angelos klarem Gesang in „I Can’t Help Myself“, in dem so viel aufrichtig Gutes und Heiles liegt, nicht zumindest ein bisschen das Herz aufgeht, der sagt auch kleinen Kindern, dass sie Bankangestellte werden sollen – behauptet ME-Kolumnistin Julia Lorenz in der zweiten Ausgabe ihrer Rubrik „Verkannte Kunst“.
Seit Mai hat unser Enfant terrible Linus Volkmann hervorragende Unterstützung an seiner Seite – und seine Hater eine Verschnaufpause: Die Popkolumne, die er seit Anfang des Jahres wöchentlich für uns schreibt, schreibt Linus fortan nur noch zweimal pro Monat. Im Wechsel übernimmt nämlich ME-Autorin Julia Lorenz, und ihr Debüt fanden nicht nur wir und Ihr gelungen, wenn man den Kommentaren glauben mag, sondern auch Linus selbst.
In ihrer Auftaktkolumne ordnete Julia Madonnas angeblichen ESC-Fauxpas neu ein, erklärte den österreichischen Charteinstieg eines 90er-Hit der Vengaboys – und machte sich mit guten Argumenten für Tokio Hotel stark: In der Rubrik „Verkannte Kunst“ – ein Gegenstück zu Linus‘ „Verhasster Klassiker“ – hielt sie ein nahezu herzerwärmendes Plädoyer für die Kaulitz-Brüder und ihre Debütsingle „Durch den Monsun“. In ihrer zweiten, ebenso starken Kolumne ging es um verlogene deutsche Radiosender, Sarah Connor und die Toleranz des Mainstreams, um Nico Semsrott, um Großnoel Gallagher – und, im zweiten Teil ihrer Rubrik „Verkannte Kunst“ um die unironische Liebe, die The Kelly Family der Welt geben will.
Verkannte Kunst (2): The Kelly Family
Und da waren sie wieder. Mit ihren Röcken, ihren Fideln, ihren drolligen Namen und gesunden Gesichtsfarben standen die Mitglieder der Kelly Family vor wenigen Tagen auf der Berliner Waldbühne, und tausende kamen. Und waren so richtig ergriffen. So wie damals. In den Bluna-blöden, hochgepitchten, schlumpfblauen Neunzigern, war die Musik der Kelly Family wie eine wärmende Wolldecke (eine bisschen fusselige Decke zwar, die undefinierbar nach Suppe riecht, die man sich aber trotzdem gern umlegt); heute sind die Kellys Erinnerung an liebe, unschuldige Zeiten, die natürlich nie richtig unschuldig waren, aber uns immerhin so im Gedächtnis geblieben sind, weil die Welt back in the days noch nicht in Echtzeit auf Twitter explodierte.
Es war eine Ära, in der die Welt so unkompliziert schien, dass eine vagabundierende Großfamilie (mit sehr langen Haaren) eine maximale Provokation war. Kein Wunder, dass die Kelly Family einst liebste Zielscheibe von Harald Schmidt war, schließlich sind die beiden Parteien natürliche Antipoden: hier Schmidt, der Zyniker mit Investoren-Charme, dort die Kellys, an deren Pathos absolut nichts doppelbödig ist. Oder gar ironisch. Die Kelly Family will der Welt nichts als grenzenlose, handgefilzte Liebe geben (und nebenbei unanständig viel Geld verdienen, wer könnte es ihnen verdenken). Aber klar: So viel aus der Zeit gefallene Peace-Rhetorik und Uncoolness ist Wannabe-Hippies, die sich schon mit einem Bein im Aussteigerleben wähnen, wenn sie beim WG-Frühstück zum Demeter-Aufstrich statt zum Ketamintütchen greifen, natürlich zu muffig.
Allein, wem bei Paddys und Angelos klarem Gesang in „I Can’t Help Myself“, in dem so viel aufrichtig Gutes und Heiles liegt, nicht zumindest ein bisschen das Herz aufgeht, der sagt auch kleinen Kindern, dass sie Bankangestellte werden sollen. Und im Ernst – sollen sich die liebebedürftigen Massen doch lieber am Lagerfeuer der Kellys ihre leeren Herzen wärmen als in der Helene-Fischer-Hölle. Dort spielt man sicher auch Songs über schwule Teenager nicht im Radio.
The Kelly Family touren übrigens seit 2017 wieder durch die Lande – mit neuem Album WE GOT LOVE (auf dem nur neue Versionen alter Hits zu hören sind) und ohne Maite und Paddy Kelly.
Dieser Text erschien zuerst in Folge 2o unserer Popkolumne:
Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte von Julia Lorenz und Linus Volkmann im Überblick.