Vedder voller Zweifel: Perlen vor die Säue?


Während Eddie Vedder spricht, hält er die Hände vor sein Gesicht wie ein meditierender Mönch. Er träumt vor sich hin, als eine attraktive junge Frau auf ihn zukommt, blond und mit unrasierten Beinen. „Sind sie DER Eddie von Pearl Jam?“ „]a“, entgegnet Vedder in dem ihm eigenen Timbre. Bevor sie ihn mit weiteren Fragen löchern kann, fügt er abwehrend hinzu: „Wir stecken gerade in einem Interview, Darling. Warum machst du nicht irgendwas mit deinen Freunden und ich komme nach, wenn ich Zeit habe.“

Das Gespräch geht weiter. „Wenn man berühmt wird“, sinniert Eddie Vedder, „ändert sich die Art und Weise, wie dich die Menschen betrachten.“ Früher war alles ganz anders. Bevor er einen Anruf aus Seattle bekam, trieb sich Eddie in San Diego herum. Jeden Morgen um halb neun ging er nach durchgearbeiteten Nächten an den Strand und ritt auf den Wellen, als ob es um sein Leben ginge. Eddie wird nachdenklich. „Ich bin doch nur eine Art Geburtshelfer in Sachen Musik. Die vielen positiven Dinge in unserer Band können beim besten Willen nicht allein mir gutgeschrieben werden, denn ich lasse mich ohnehin nur von meinem Unterbewußtsein leiten. Die Musik dringt in mich ein und ich fühle die Worte, die ich singe. Ich denke nie darüber nach, wie meine Stimme klingt oder welche Gesangstechnik ich anwenden soll. Ich lasse mich einfach gehen.“

Ein Statement wie dieses schürt wieder einmal Eddies Image als sensibles, ehrliches Sprachrohr einer mittlerweile gnadenlos überstrapazierten Generation X. Eine Rolle, die er wortreich ablehnt, die ihn bedrückt, ärgert und verunsichert. Warum er dann – wenn vielleicht auch unbeabsichtigt – dennoch am Image des innerlich zerissenen Anti-Stars bastelt, bleibt fraglich. Niemand kann ihn dazu zwingen, sein Innerstes nach außen zu kehren, Platten zu verkaufen und damit eine Menge harter Dollars zu kassieren.

„Sobald man sich als fühlendes Individuum outet“, lamentiert er, „beginnen wildfremde Menschen damit, sich mit dir zu identifizieren. Sie verfügen über meine Musik, die sie sich jederzeit anhören können. Das sollte doch eigentlich genügen.“

Doch die Fans wollen mehr, täglich erhält Mr. Vedder kistenweise Fanpost. „Teilweise ist das ganz schön harte Lektüre. Wildfremde Menschen schreiben mir, wie sie über Tod oder Selbstmord denken. Eine Zeitlang habe ich die meisten Briefe sogar beantwortet, aber irgendwann ging das einfach nicht mehr. Einige Fans dachten offenbar, ich sei ihr bester Freund. Mich hat das nur noch deprimiert, denn

mir wurde klar, daß diese Leute meine Position als Musiker einfach viel zu ernst nehmen.“ Das Paradebeispiel eines Stars wider Willen? Nicht ganz, denn Eddie Vedder kokettiert mit seinem Status, wenn er mit leuchtenden Augen über die Bühne tobt, wenn er mit seinem rauhen Organ die gesamte Erfahrung, das Talent und die Vision seiner Band widerspiegelt, dann kennt seine Begeisterung keine Grenzen mehr. „Manchmal gelingt es mir, mit dem Publikum wirklich zu kommunizieren. Wenn ich meine Emotionen auf der Bühne unbegrenzt ausleben kann, fühle ich mich wie Superman. Die besten Shows sind immer diejenigen, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnern kann.“

Gitarrist Stone Gossard, seiner Ausstrahlung nach der eigentliche Anführer und musikalische Kopf Pearl Jams, meldet Zweifel an: „Weil wir jeden Abend dieser überdrehten Live-Atmosphäre ausgesetzt sind, haben wir uns wohl in einer Art und Weise weiterentwickelt, die uns selbst schon gar nicht mehr bewußt ist. Das Problem ist“, führt er lässig lächelnd fort, „daß wir nie damit gerechnet haben, einmal berühmt zu werden. Wir sind alle mehr oder minder in die Sache reingerutscht.“ Eddie Vedder stößt ins selbe Hörn, doch der Lakonismus seines Gitarristen, der sich mit den Entwicklungen der letzten Jahre längst abgefunden zu haben scheint, ist ihm völlig fremd. Eddie fühlt sich überrollt. „Es ist zu viel in zu kurzer Zeit geschehen.“

‚Ten‘, Pearl Jams Debütalbum, verkaufte sich ebenso wie das Nachfolgewerk ‚VS.‘ weltweit mehrere Millionen Mal, ‚Vitalogy‘ – das übrigens zuerst auf Vinyl, und dann als CD erscheint – wird die Erfolgserie mit Sicherheit fortsetzen. Vedder, politisch korrekt bis zum Abwinken, will von schnöden Verkaufszahlen allerdings nichts wissen. Im Gegenteil: Mit jeder verkauften Platte gerät er offenbar in tiefere Rechtfertigungszwänge – ein Mann, der sich verteidigt, obwohl ihn niemand angegriffen hat. „Kann sein, daß wir Millionen von Platten verkauft haben, aber das spielt für uns überhaupt keine Rolle. Es hat nichts an unserer Einstellung zur Musik geändert. Wahrscheinlich ist der einzige Grund, warum wir überhaupt so erfolgreich sind, daß ich mich die ganze Zeit über mit Gefühlen und dem wahren Leben befaßt habe.“ Unbewußt, wie zu vermuten ist…

Auch Stone Gossard hat zum Thema Kommerz und Erfolg eine Theorie auf Lager: „Das Problem ist, daß Musiker, die nur wegen des Geldes im Geschäft sind, falsche Prioritäten setzen. Da werden dann beispielsweise Bandmitglieder rausgeschmissen, nur weil sie nicht hübsch

genug sind – das ist doch völlig irrsinnig.“ Die kommerz- und spaß-orientierte Rock’n’Roll-Maschine, seit 40 Jahren mehr oder minder dekadenter Industriestandard, läßt Pearl Jam denn auch völlig kalt. Eddie Vedder interpretiert Rock’n’Roll eher als eine „Beschleunigung des Nachdenkens“, Drogen, Suff und exzessive Partys sind ihm hingegen ein Greuel. Den Gepflogenheiten der Branche zum Trotz ist Eddie, der Monogame, denn auch seit mehr als zehn Jahren mit seiner Jugendliebe Beth Liebling zusammen, letzten Juni gaben sie sich in Rom sogar das Jawort. „Für viele bedeutet Rock’n’Roll nichts anderes, als sich vor, während und nach der Show zu besaufen und die ganze Nacht nichts anderes zu tun, als endlos rumzubumsen und sich Heroin zu spritzen. Für mich bedeutet Rock’n’Roll oder Punk, sich unter Kontrolle zu haben, stark zu sein und Dinge mit deinem Körper zu tun, die du nicht schaffen würdest, wenn du körperlich schwach oder geistig nicht ganz zurechnungsfähig wärst.“

Eddie weiß, wovon er spricht. Während seiner Nachtarbeiter- und Surfer-Zeit in San Diego war er illegalen Substanzen alles indere als abgeneigt – und sei es nur gewesen, um die langen Nächte über wachzubleiben. Besagter Anruf aus Seattle änderte sein Leben, und Eddies Miene klart sich auch heute noch auf, wenn er sich an seine erste Zusammenkunft mit dem Rest der Band erinnert: „Als Stone mir ein Demotape zukommen ließ, war mir klar, daß ich sofort meine Sachen packen und gehen mußte – die Musik war einfach grandios. Ich wäre zu Fuß nach Alaska gelaufen, nur um mit ihnen zusammen spielen zu können. Ich flog also nach Seattle und traf die Band im Keller einer Kunstgalerie. Die Stimmung war unbeschreiblich. Der tollste Moment in meinem Leben war, als wir dann gemeinsam ‚Alive‘ spielten. Das war das erste Stück, das wir zusammen auf die Reihe brachten.“

Von da an ging’s bekanntermaßen steil bergauf. Ein Erfolg, den Eddie Vedder in letzter Konsequenz auf beherzte Eigeninitiative zurückführt. „Letztendlich mußt du die Dinge immer selbst in die Hand nehmen. Seitdem ich in jungen Jahren mein Zuhause verlassen hatte, kämpfte ich immer wieder nur um Selbständigkeit und Selbstkontrolle. Aber wahrscheinlich werde ich meinen Verstand verlieren, sobald ich feststelle, daß ich mein Ziel erreicht habe.“