Unheilig werden einem unheimlich
19. Februar 2010
Man muss sich auch mal in die Leute der „schwarzen Szene“ hineinversetzen: Jeden Tag die Frisiererei. Diese komplizierten Klamotten. Die ständige Quatschmusik. Und dann gehen dir auch noch die Rollenmodelle von der Fahne und lassen sich bei Stefan Raab abfeiern! Das zehrt an den Nerven, und da verwundert es nicht, dass so mancher Schwarzkittel Bernd Graf in diesem Jahr am liebsten auf dem Scheiterhaufen gesehen hätte. Die haben den ja kaum wiedererkannt, so ganz ohne Vampir-Kontaktlinsen – war das noch rechtschaffen unheiliges Darkwave-Gedöns? Oder eher schon der, schluck!, Ausverkauf? Sechs Alben lang war „der Graf“, wie sich Bernd Graf nennt (was an den schönen Otto-Waalkes-Gag „Nein, hier ist nicht Heinrich König, sondern König Heinrich. Aber das passiert mir öfter“ denken lässt), in den Katakomben des Indie-Goth herumgehuscht. 2010 wollte es der Aachener wissen: Der Boden war lange bereitet – von der „neuen deutschen Härte“ über das anämische Geheul von HIM bis zur aktuell grassierenden Vampir-Nekromantik -, der Markt überreif, in den „der Graf“ jetzt seine austarierte Mixtur aus allem injizierte, was den Deutschen in ihrer ewig fatalistischen Schwäche fürs Untergänglerisch-Hinfällige in den letzten Jahren an Pathos-Quark so richtig reingefahren war. Das am 14. Februar veröffentlichte siebte Unheilig-Album Große Freiheit hat den optimalen Effekt aus dräuendem Drama-Schwulst, Orchester-Pomp, rollender Rammstein-Härte (ohne den Humor), Mittelalter- und-Mystik-Schmuh, mit Weltmüdigkeits- und-Schwerblut-Poserei verbrämtes Suizid-Romantik-Gelöt und gekoppeltem Mutmachpathos (die hirnverbiegend erfolgreiche Single „Geboren um zu leben“) – alles dermaßen ausgemittelt und glatt poliert und auf bedeutsam gebürstet, dass es einfach reinknallen musste in einem Land in einer Zeit, da die Leute am liebsten einen schneidigen Baron als Bundeskanzler, ach was: König! haben würden. Goth-Analogkäse für die ganze Familie. Vermisst schon wer Chris de Burgh?