Und Régine zieht den Kopf ein
Leidenschaftlich und impulsiv ist ihre Musik, doch Arcade Fire sehen keinen Grund, darüber hinaus groß zu tönen.
Win Butler und Régine Chassagne können sich noch genau an den Augenblick erinnern, als ihnen klar wurde, daß sie es geschafft hatten – was immer „es“ auch sein mag. Nicht, als sie ihren Plattenvertrag in der Tasche hatten. Nicht, als sie von funeral 60.000 Exemplare verkauft hatten. Nicht, als Arcade Fire in der Liste der besten Platten 2004 des hippen New Yorker Stadtmagazins „Village Voice“ auf Platz sechs rangierten und damit Modest Mouse, Wilco und U2 übertrumpften. „Es war der Augenblick, als bei einem Konzert in San Francisco das Publikum ,Cars And Telephones‘ verlangte!“, sagt Régine in ihrem hübschen kanadischen Englisch mit französischem Einschlag und strahlt über das ganze Gesicht. Der Song „Cars And Telephone“ ist fünf Jahre alt und eigentlich nie erschienen. Er muß auf verschlungenen Wegen über eine frühe Demo-Kassette seinen Weg von Montreal an die Westküste geschafft haben – und dort direkt in die Indie-Herzen. Denn bis auf ein obskures „Weihnachtsalbum“ ist funeral alles, was es bisher von Arcade Fire offiziell zu hören gibt. Dieses „alles“ ist tatsächlich allerhand, ein schmerzlich schaukelndes Schwelgen einander umschlingender, verschlingender Harmonien, aufgeteilt in eine mehrteilige Suite namens „Neighborhood“ und andere bittersüße Songs der Sorte „Woher, verdammt nochmal, nehmen die ihre Melodien?“. An Pulp oder David Bowie erinnert die Musikbisweilen. Ihre Attitüde, da sind sich zumindest die US-Kritiker einig, haben sie von den Talking Heads. Im Berliner Büro ihrer Plattenfirma zuckt Regine nur hilflos mit den schmalen Schultern. „Talking Heads?“ Ja, Mensch, David Byrne soll persönlich auf einem Konzert in New York gesehen worden sein, mit offenem Mund. „David Byrne?“ Ja, Eric Clapton und David Bowie waren auch da! Aber Regine wirft die Stirn in Falten, so daß wir an dieser Stelle gar nicht weiterfragen wollen. So geht es ihr oft dieser Tage, ihr und ihrem Gatten Win Butler, einem gebürtigen Texaner. „Die Europäer“, meint sie, „stellen noch mehr und noch kompliziertere Fragen als die Journalisten zu Hause.“ Wegen der enormen Nachfrage haben sich Win und Régine aufgeteilt, geben parallele Interviews – so gut sie eben können: „Ich könnte überhaupt nicht sagen, daß mich irgendeine Band besonders beeinflußt hat“, meint Régine, denkt eine Weile nach und bietet schließlich die Beatles an: „Meine Eltern hatten dieses blaue Best-Of-Album“, sagt sie und hebt am Ende des Satzes die Stimme, als wolle sie sich erkundigen, ob das nun eine befriedigende Antwort sei.
Sprechen wir lieber über das, was die US-Amerikaner die „Canadian Invasion“ nennen, eine Flut unverbrauchter Bands aus den blühenden Subkulturen des nördlichen Nachbarlandes mit einer erstaunlichen künstlerischen Spannweite, die von Godspeed You Black Emperor! bis zu Broken Social Scene reicht. Aber wieder schüttelt Regine nur den Kopf: „Nein, eine richtige Szene ist das nicht. Montreal ist eine übersichtliche Stadt, man kennt sich, spielt auch manchmal zusammen. „Aber es gibt keinen so intensiven Austausch unter den Musikern wie beispielsweise in Omaha.“ Dort, bei Saddle Creek, rund um Conor Oberst, spielen alle wild durcheinander in den Bands und Projekten – kein Modell für Montreal: „Ich bin zum Beispiel, glaube ich, keine allgemein besonders tolle Schlagzeugerin, abergenau die richtige für unsere spezielle Band.“
Arcade Fire haben sich nach einer Geschichte benannt, die Win nicht mehr vergessen kann, seit sie ihm als Kind erzählt worden ist: „Darum geht’s auch lose auf dem Album. Es ist die Geschichte eines Feuers in einer Spielhalle, bei der viele Kinder in der Nachbarschaftverbrannten.“ Arcade Fire, Neighborhood, Funeral. Ein Konzeptalbum will das aber trotzdem nicht sein, eher „eine lockere, assoziative Sammlung von persönlichen Kurzgeschichten“, wie Régine betont. Politisch ist das schon gleich gar nicht, dennoch profitieren Arcade Fire in gewisser Weise von der gesellschaftlichen Situation in den USA. Viele Liberale hatten für den Fall einer Wiederwahl von George W. Bush ihre Auswanderung nach Kanada angekündigt – und blieben dann doch. Fast scheint es, als hörten diese Leute nun wenigstens kanadische Musik – vor allem Arcade Fire. Es gibt genau drei Indizien, die für diese These sprechen: Erstens zieht Regine wieder den Kopf ein, als es um dieses Thema geht. Zweitens schwärmt US-Indie-Superstar Conor Oberst seit über einem Jahr von keiner Band so leidenschaftlich wie von Arcade Fire. Und drittens sagt ein gewisser Geoff Travis über Butler und Chassagne: „Bei denen hab ich ein genauso gutes Gefühl wie damals bei den Strokes.“ Er muß es wissen, denn Travis hat die Strokes entdeckt. Und die Smiths. Auch Franz Ferdinand. Adam Green. Und Arcade Fire.
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