Tygers of Pan Tang


„Here’s your West Runton “ gibt mir der kratzbürstige Schaffner nach einer Stunde Fahrzeit im überfüllten Bummelzug Norwich-Harwich zu verstehen. Endlich am Ziel einer mehrstündigen Odyssee: Üppiges, säuberlich parzelliertes Ackerland, Schafe, Kühe, Wald und Wiesen, dazwischen eine Handvoll verstreuter Gehöfte, in der Ferne Dünen und Strand. Ich gebe zu, daß ich mir den Schwermetall-Luftschutzbunker, von dem in London die Rede war, anders vorgestellt hatte.

Hier in West Runton gilt es also meine Mission zu erfüllen: Die leibhaftigen Tygers of Pan Tang ins Visier zu nehmen. West Runton ist ein im Winter fast menschenleerer Badeort mit 700 Einwohnern, und, jawohl, es existiert auch eine Aula, der West Runton Pavillion, wo die Jugend aus den umliegenden Dörfern an Wochenenden zu Heavy Metal-Orgien die Sau rausläßt. Der Pavillion ist unschwer zu finden, allein der Lautstärke-Pegel dient ab zuverlässiger Wegweiser. Die ganze Szenerie wirkt gespenstig. West Runton könnte der Heavy Metal-PräzedenzfaU sein, eine Fallstudie für die horrendsten Auswüchse des Genres.

Das Publikum ist extrem jung, einheitlich uniformiert, zu mindestens 99 Prozent maskulin und sternhagelblau. Manche liegen völlig apathisch auf dem Boden, fast alle tragen sie Jeans und Lederjacken mit Runen, Symbolen, Nieten und Plaketten. Da prangt Foreigner neben Led Zeppelin, Honda neben Kawasaki, Arsenal, Norwich City und Manchester United … Rock ist ein Fetisch wie die unerschwingliche, chromglänzende 2000er, ein Tonikum wie das glatte 5:0 beim Lokalderby. Platzvorteil für die Tygers also, die ihren Status mit Komplimenten („You’re the greatest audience in the world“) zu zementieren wissen.

Was sie dann vom Stapel lassen, entspricht allerdings den ärgsten HM-Klischees: prähistorische Riffs, leicht kalkulierbare Breaks, das obligatorische Tonleiter-Rauf-Tonleiter-Runter-Solo-Genudel, alles natürlich superschnell, superlaut und supernart.

Aber so beängstigend ausgelutscht die Versatzstücke auch klingen: Die Tygers sind blutjung, unbändig, hungrig und wild, ihr Anliegen ist absolut ehrlich, ihre Aggression reell. Axeman John Sykes spielt (noch) nicht den sterbenden Schwan – und auch Sänger Ion Deverill scheint sexuell noch nicht so auf den Hund gekommen zu sein wie etwa David Coverdale, der nur noch mit meterhohen Marshall-Türmen im Rücken und Mikrophonständern zwischen den Beinen zum Orgasmus kommt.

Nachdem der ganze Spuk vorüber ist, wartet auf mich die Bewährungsprobe, das Interview mit Shouter und Gitarrero, den Rädelsführern jeder HM-Gang. Zugegeben, ich ging vorurteilsbeladen in den Clinch, erwartete den archetypischen Rock-Vandalen mit gestörtem Adrenalin-Haushalt, dessen debiler Small Talk kaum über Groupie-Amouren hinausgeht.

Wie sehr man sich doch täuschen kann! Die Beiden sind lammfromme, höfliche und wortgewandte Gesprächspartner, schlagfertig, euphorisch, undogmatisch und beinahe schon geschäftsschädigend selbstkritisch.

Stört es euch eigentlich nicht, daß so wenige Mädchen bei euren Gigs anwesend sind? Jon Deverill: “ Oh ja. Ich verstehe ehrlich gestanden auch gar nicht warum.

Aber es gibt Bands, zu denen sich überhaupt keine Mädchen verirren. Motörhead z.B. „John Sykes: „Ist ja auch kein Wunder. Guck Dir doch die häßlichen Vögel mal an, hahaha.“ Aber liegt dieses Problem nicht darin begründet, daß viele HM-Heroen einen diskriminierenden Chauvinismus kultivieren, White Snake beispielsweise?

Jon D.: „Da hast du sicher recht, obwohl ich White Snake mag. Klar, Coverdale schießt gehörig übers Ziel hinaus, aber es gibt halt auch Frauen, die seine, awoman is there toplease“-Attitüde erotisch finden. Coverdale ist sogar ein Sexsymbol…“

Abscheulich. „Du solltest das alles nicht so ernst nehmen“, beruhigt mich Jon. „Das ist halt Entertainment, Fun…“

Willst du mir etwa diese ekelhafte Pascha-Pose als Fun verkaufen? Bist du dir nicht bewußt, wie viele seiner Jünger diese männliche Superioritäts-Masche für bare Münze nehmen?

„Doch, da muß ich dir recht geben“, erwidert Jon etwas kleinlaut. „Es gibt viel zu viele Fans, die für ihre Idole blind durchs Feuer gehen. Aber was soll die Kollegenschelte, es gibt genug Leute, die solche Bands in die Charts kaufen.“

Oh, du meinst 5.000.000 can ‚t be wrong? Das ist doch keine Rechtfertigung. Wo ist bei HM eigentlich die Grenze zwischen Fantum und Fetischismus?

„Schwer zu sagen“, überlegt Jon. „Es gibt wahnsinnig viele Kids, die ihren Helden gedankenlos nacheifern. Heavy Metal ist ihr Lebensinhalt, sie hören nicht auf Missionare oder Politiker, wir sind ihre Demagogen und uns fressen sie aus der Hand. Das ist natürlich Fetischismus, aber zumindest recht harmlos…“

Hältst du es eigentlich mit der Schwermetall-Lebensweisheit, also Sex & Drugs & Rock’n’Roll?

Jon: „Blödsinn. Heavy Metal ist doch kein Lebensstil. Okay, für viele schon, die flüchten sich wie Motörhead in den Totalsuff oder wie Ozzy Ozboume in seine hirnverbrannte Black Magic-Schauspielerei. „

Nehmt ihr Drogen? „He, ganz schön neugierig. Ja, wir rauchen gelegentlich mal ’nen Joint. Wir sind keine Junkies – und auch wenn ’s für unser Image schädlich ist: Keiner von uns verträgt viel Alkohol, und Sexisten sind wir auch nicht, wir hätten sogar etwas mehr Glück bei Mädchen nötig.“

Seid ihr eigentlich davon überzeugt, daß im Heavy Metal-Kontext, in einem Rahmen also, der in einem Dutzend Jahre völlig ausgetreten wurde, noch Raum für Provokation bleibt?

Jon: Ja und Nein. Ich sehe, worauf du hinauswillst. Du spielst auf die ganzen ausgepowerten und abgewirtschafteten Rock-Giganten an. Aber Heavy Rock ist nun mal’ne konservative Sache. Aber du kannst via HM genauso viel artikulieren wie mit anderen Stilmitteln. Was hältst du eigentlich von meinen Lyrics?“

Vieles klingt sehr realistisch, gemessen an den branchentypischen Fluchtmechanismen. Aber Stücke wie „Gangland“ sind auch leicht mißzuinterpretieren, wirken irgendwie masochistisch und gewaltverherrlichend…

„Oh nein! Der Song ist in Tyger Bay, dem Ghetto von Cardill, wo ich selbst jahrelang gelebt habe, entstanden. Okay, „kick down the door“, das kann man schon falsch verstehen. Aber die Aggression in dieser Gegend ist unvorstellbar, die meisten Kids schlagen sich mit minimalen Sozialhilfesätzen durch. Und dann der nächste Passus, „life has no direction“, hat es ja auch nicht, oder? Ich meine für die Leute in Tyger Bay. Ich wünschte, daß ich dieser elenden pseudo-demokratisch en Heu ch elei die Gurgel um drehen könnte!“

Die ohnmächtige Wut der Tygers of Pan Tang ist empirisch aufgezwungen, sie wird ungeschminkt und mit entwaffnender Offenherzigkeit protokolliert. Dennoch: Die Tygers haben sich schon heute viel zu tief im unwirklichen und morbiden Rock-Variete verstrickt. Gerade das, was sie immer wieder stolz als „Tradition“ hochleben lassen, fesselt ihnen die Hände. Sie können und wollen nicht wahrnehmen, daß Rock in seiner existierenden Form vor dem gähnenden Nichts steht, daß es attraktivere und unvorbelastetere Präsentations-Möglichkeiten gibt.