TV On The Radio – Dear Science
Liebe Wissenschaft, ist das, was die Supergroup aus Brooklyn hier treibt, noch traditionelle Pop-Alchemie – oder läuft das schon unter „Weiße Magie-‚?
„Dear Science“ ist der Titel einer Leser-Kolumne der alternativen Wochenzeitung „The Stranger“ aus Seattle. Wer Fragen an die Wissenschaft hat, kann sie dort stellen. Er erhält nicht nur eine allgemeinverständliche Antwort, sondern eine obendrein unterhaltsame („Can you catch diseases from a cat? Hell yes.'“). Der Titel des dritten Albums (das eigenvertriebene Debüt nicht eingerechnet) von TV On The Radio darf allerdings nicht so verstanden werden, dass sie sich nunmehr mit kurzweiligen Frage-Antwort-Spielen zufriedengeben. Sie selbst geben ohnehin prinzipiell keine Antworten. Und ihren Fragen fehlt es nicht nur an Fragezeichen. Sie sind zu komplex für Kolumnen, zu ernst und gewichtig, um nur zu unterhalten.
Wer TVQTR kennt, weiß aber: Nicht nur daher, also von der inhaltlichen Gewaltigkeit ihrer Songs, die sich gar nicht groß mit dem neutestamentarischen Gloria aufhalten, sondern in unserer Welt eher Parallelen zu den Omen und Heimsuchungen der alten Schriften finden, rührt ihre fast physische Nähe zum Gospel. Der Gesang von Tunde Adebimpe und Kyp Malone, vor allem wenn sie im Chor schmettern und heulen, und überhaupt die große hymnische Kraft ihrer Melodien, die sie auf Dear science noch zu konzentrieren wissen (schon die Strahlkraft des Openers „Halfway Home“ erstickt jeden Widerspruch im Keim), gibt ihrer Musik diese spirituelle Dimension. Oder Attitüde, je nach Perspektive.
Und dann ist da ja noch David Andrew Sitek, der utopische, ganz sicher besessene, aber dennoch nicht blindwütige Hausproduzent des Quintetts. Ein amtlicher Dombaumeister und dabei eingeschworener Gaudianer, das weiß spätestens nach seiner rigorosen Arbeit an Scarlett Johanssons verstiegener Tom-Waits-Hommage Anywhere I lay my head die halbe Welt. Und so ist auch der erste Eindruck von dear science geeignet, den Hörer amtlich zu erschlagen. Dabei lautet die Wahrheit über das neue Album der Brooklyner Band wie folgt: Es ist ihr bislang differenziertestes. Manche Songs sind fast schon (vergleichsweise) transparent angelegt, hat man sich erst einmal daran gewöhnt, dass es hier niemals ruhige See gibt. Die hat eine ins Wanken geratene Welt nicht mehr im Angebot. Doch in Siteks Grundgetöse, das selten eine greifbare Form erhält, aber mit festem Griff Stimmungen zu beeinflussen weiß, sind klare instrumentale Stelldicheins zu erkennen. Vor allem die lebendigen Streicher- und Bläserarrangements schälen sich deutlich heraus, bis sich im Finale vom ausnehmend hoffnungsvollen Rausschmeißer „Lover’s Day“ ein ganzes kleines Orchester erhebt und losmarschiert – kein Wunder, nach diesen Schlusszeilen:
„Call it Lover’s Day! Yes, here of course there are miracles. Under your sighs and moans. l’m gonna take you home.“
dear science ist auch das TVOTR-Album, das seine Einflüsse am ehrlichsten und selbstbewusst offenlegt. Und mehr davon zulässt. Vor allem hat die Platte mehr Funk, der knisternd brennt wie gut gelagertes Feuerholz, auch wenn viel davon nicht gespielt wird, sondern programmiert wurde:
unter Verwendung so einiger 8os-Sounds. Aber dass TVOTR eine Band ist, die die Suche nach dem Soul in der Maschine zu einer ihrer Hauptaufgaben gemacht hat, hat sich ja hoffentlich auch herumgesprochen. Eben gerade weil sie – nicht zuletzt im tatsächlich sinnlichen Konzerterlebnis – dabei immer wieder zu verblüffenden Ergebnissen gelangt.
Und schließlich hatDEAR science mit Songs wie „Stork And Owl“ und „Family Tree“ sogar Powerballaden im Programm. E-Piano, geradezu lichte Arrangements – auf einer Depeche-Mode-Platte wären das die von Martin L. Gore gesungenen Stücke. Doch als Kollege Lindemann diesen Begriff im Interview gebrauchte: Powerballaden, warf ihm Sitek einen galligen Blick zu. Hm, was sagt wohl die Wissenschaft dazu? >» www.tvontheradio.com >» story s. 36 OKTOBER 2008 Discographie:
2002 OK Calculator (Eigenvetrieb)
2004 Desperate Youth, Blood Thirsty Babes(Touch & Go)
2006 Return To Cookie Mountain (4AD/Beggars)
2008 Dear Science (4AD/Beggars)