TV Hören und Sehen


Der CD-Markt stagnierte 2004, doch Musik-DVDs boomten ohne Ende. Das Angebot ist auch so reichhaltig wie nie zuvor, die Firmen unternehmen längst mehr, als nur alte VHS -Themen zu recyceln. Hier sind sie: Die besten DVDs des Jahres.

KONZERTE

The White Stripes

Under Blackpool Lights XL/Beggars/Indigo

Ein zusätzliches „Making Of“? Eine flockige Behind-The-Scenes-Dokumentation mit ungekürzten Interviews? Erhellende Passagen, die im Tourbus gedreht wurden? Bonus-Material? Nein, Meg und Jack wollen so etwas nicht, und das hat seinen Sinn. Man konzentriert sich viel leichter auf das Wesentliche, auf 77 Minuten lauten und rohen Rock’n’Roll, gefilmt im „Empress Ballroom“, der in Englands proletarisch-trashigem Amüsierbetrieb namens Blackpool steht. Das passt also. Doch die White Stripes setzen noch einen drauf, denn sie ließen sich nicht durch Profi-Kameras bei der Arbeit beobachten, sondern durch antike Super-8-Geräte. Ein museales Format, auf dem Nachkriegs-Famiüenväter Italienurlaube und Omas 75. festzuhalten pflegten. Ein Scherz? Verweigerer-Attitüde auf Kosten der qualitätsverwöhnten Kundschaft? Keinesfalls, denn die schummng-grobkörnige Optik passt perfekt zum schummrig-grobkörnigen Sound der White Stripes. So klingt Rock’n’Roll. Und so sieht er auch aus.

Mehr:

Foo Fighters: Everywhere But Home (RCA/ BMG) Ihre Studioalben sind meist voller Licht und Schatten, doch live auf der Bühne sind die Foo Fighters eine Macht. 38 Live-Takes lassen daran keinen Zweifel.

Live Aid (Warner): Das definitive Pop-Ereignis der achtziger Jahre, verteilt auf vier DVDs und in bester Qualität. Das Spektrum der Musik reicht von kurios bis wunderbar. Eine Zeitreise in die Dekade des Hardrock, Synthiepop und der lustigen Frisuren.

Depeche Mode: Devotional (Mute) Anton Corbijns Grammy-nominierter Mitschnitt von zwei Konzerten der ’93er-Tournee in Frankfurt und Barcelona. Als Doppel-DVD mit MTV-Doku und zahlreichen Clips.

Die Ärzte: Die Band, die sie Pferd nannten (Hot Action Records) Ein Rundum-glücklich-Paket für den Gabentisch mit komplettem, aufwändig gefilmtem Konzert und origineller Zeitraffer-Doku als Zugabe. Spaßig das alles. Und sehr unterhaltsam.

DOKUS

Oasis Definitely Maybe 5ony Music

Zehn Jahre ist es her. Damals veröffentlichten zwei großmäulige, britische Brüder mit einigen als Band getarnten Statisten ein Album, das die Welt veränderte. So zwei, drei Jahre zumindest, denn dann war die Luft raus, und „Britpop“ mutierte wie einst schon „Grunge“ beinahe zum Schimpfwort. Doch „Definitely Maybe“ war groß, der Hype um „Cool Britannia“ größer, die Egos der Gebrüder Gallagher am größten. Mit Recht, wie die DVD zeigt, denn niemand sonst schaffte es, das Archiv der englischen Popkultur auf dermaßen unverschämte und unterhaltsame Art zu plündern. Instant-Hymnen zu kreieren, die sich in den Ohren festsetzten wie Kaugummi an der Schuhsohle. „Definitely Maybe“ liefert all die Hits als Studio- und Live-Versionen, alle Clips in Europa- und US-Ausgaben, rare Bilder und Filmsequenzen sowie Interviews mit den beteiligten Musikern. Fan-Futter der Superlative, das kaum Fragen offen lässt. Bis auf eine: Warum schafften Oasis mit „What’s The Story (Morning Glory)“ nur noch eine zweite Großtat und schlafften dann so fürchterlich ab?

Mehr:

The Beatles: The First U.S. Visit (Apple/ EMI) Wie der ganze Wahnsinn los ging: Die Gebrüder Maysles filmten die Fab Four bei ihrer ersten US-Tournee 1964 – so nahe ließen die kommenden Superstars nie mehr eine Kamera an sich heran.

The Who: The Kids Are Alright (Sanctuary) Legendärer Rock-Katastrophenfilm mit Live-Mitschnitten. Interviews und jeder Menge Wahnsinn. Essenziell.

Hip Hop Immortais: We Got Your Kids [Sock Bandit/BMG] Die ultimative Dokumentation in Sachen HipHop, optisch, akustisch und inhaltlich ohne Fehl und Tadel. Ein gelungener Rundumblick auf alle Facetten der HipHop-Kultur.

Standing In The Shadows Of Motown (Momentum/lmport] Liebevolle Würdigung dreier Musiker, die den Sound des Motown-Labels prägten – und dennoch stets im Hintergrund blieben.

CLIPS

Diverse Warp Vision – The Videos 1989-2004 Warp/RoughTrade

Dass sich Fans Clip-Compilation-DVDs ihrer Lieblings-Künstler kaufen, kann man sich ja denken. Eine Sammlung von Musikfilmen diverser Interpreten hingegen muss schon ein paar gute Argumente mehr parat haben, um Kaufinteresse zu wecken. Warp Vision war 2004 dafür das beste Beispiel – wenn auch keines, das Menschen überzeugen könnte, die der elektronischen Musik absprechen, überhaupt Musik zu sein. Alle anderen vermag diese Sammlung von 32 Clips aus dem hohen Hause Warp ins Staunen zu versetzen, zu verängstigen, ordentlich zu verstören, zu belustigen, unterhalten, beschäftigen und zu inspirieren. Denn solches haben nicht nur die Musikanten, Abstrahierer und Traumumwandlerwie Aphex Twin, LFO, Autechre, Squarepusher, Jimi Tenor, Broadcast, Plaid, Beans und Jamie Lidell im Sinn. Das gilt auch für die Regisseure, die den Warp-Größen zur Seite stehen, um so viel mehr, so viel Wertvolleres zu produzieren als bunte Anfixfilmchen zum Tonträgerkauf. Chris Cunninghams absurde Aphex-Twin-Überhöhungen sind ohnehin schon Legende, aber auch darüber hinaus gibt es auf Warp Vision ausschließlich allerbeste Argumente für die Beibehaltung der Kunstform „Musikvideo“ an sich. [OGÖ]

Mehr:

Travis: Singles [Epic/Sony] 17 Kurzfilme der originelleren Sorte, mal witzig, mal kryptisch, mal herzerwärmend. Und die Heimvideos in der Bonus-Sektion gewähren recht erstaunliche Einsichten

Red Hot Chili Peppers: Greatest Videos [Warner] Ob im Goldlack, im Taxi, als Computerspiel oder Stummfilm: ambitionierte Kurzfilme und großartige Musik.

Nick Cave & The Bad Seeds: The Videos [Mute] Komplett: Caves Clips. 20 an der Zahl, inklusive des Klassikers „The Mercy Seat“ und „Where The Wild Roses Grow“ mit Kylie Minogue.

Peter Gabriel: Play (Warner) Wurde auch Zeit: Die audiovisuellen Großtaten des Clip-Pioniers. Noch immer sehenswert.

AUSSER KONKURRENZ

This ls Spinal Tap

MGM/Universal

Der legendäre Rundumschlag auf das Rock’n’Roll-Business, Mitte der achtziger Jahre lakonisch inszeniert von Rob Reiner: Große Kinder mit behaarten Brüsten und albernen Songs, ein überforderter Manager, eine ehrgeizige Musikergattin und eine aalglatte Plattenfirmen-Tante. Man hält sich für genial, man scheitert grandios. Die Doppel-DVD enthält jede Menge unveröffentlicht gebliebener Szenen, deutsche Untertitel sind optional.

Donnie Darko

Pandora/Media

Corporation One 2001 feierte er in den USA Premiere, das englische Magazin „The Face“ kürte ihn im selben Jahr zum besten Film – doch in Deutschland lief er nie im Kino. Doch immerhin erschien hierzulande die aufwändigste DVD-Edition des genialen Spielfilms und Regiedebüts von Richard Kelly. In der Hauptrolle sieht man Jake Gyllenhaal, der in einen absurden Kampf verwickelt ist: Das Ende der Welt naht, und nur Darko weiß, wann es soweit sein wird. Ein rätselhafter Film mit erschütterndem Finale, grandios inszeniert.

L’Aurore/Sunrise

Carlotta Films/Import

Für die Regie-Legende Francois Truffaut war „Sunrise“, gedreht 1927, schlicht „der schönste Film aller Zeiten“. Dass es die erste Hollywood-Arbeit von Friedrich Wilhelm Murnau („Nosferatu“) nun wieder auf DVD und leider nur als Import aus Frankreich gibt, hat seinen Grund: Lambchop haben das Meisterwerk neu vertont, können das Ergebnis wegen Querelen um die Rechte allerdings nur in Frankreich veröffentlichen. Auf „L’Aurore“ gibt’s u.a. die zeitgenössische Klanguntermalung, eine orchestrale Version – und Lambchops flott dahinschwingende „Nachdichtung“. Und die macht, auch für Lambchop-Verächter, den schönsten Film der Welt noch ein wenig schöner. (FRA)

Slade

Slade In Flame

Unionsquarepictures/Import

In den frühen siebziger Jahren war Slades Glamrock gerade in Europa äußerst populär, weshalb die Kapelle um Sänger Noddy Holder sogar in einem Film mitspielen durfte: „Slade In Flame“ zeigt Slade als fiktive Rockband Flame, die in den sechziger Jahren allerlei Abenteuer besteht. Angefüllt mit Seitenhieben auf real existierende Bands, mit reinstem britischen Humor und hörenswerter Musik, ist das aus dem Archiv hervorgekramte Werk von 1974 ein kleines Goldstück. In Deutschland lief der Film nie im Kino, der Verleiher zweifelte am „kommerziellen Potenzial“. Egal: „Slade In Flame“ ist bestes Rock’n’Roll-Kino und eine Entdeckung wert. Nur im englischen Original.