Tortoise


STELL DIR VOR, DIE BAND DES Abends steht auf der Bühne, und keiner merkt’s. Bei Tortoise kann das schon mal passieren, keine Ursache. „Wow & Flutter“ lautete das Motto des Festivals, das die beiden Labels City Slang und Too Pure durch fünf handverlesene europäische Städte schickten. Vier neutönende Bands standen auf dem Programm: Salaryman, Long Fin Killie, Mouse On Mars und eben Tortoise. Wenn das Postrock-Kollektiv um die Herren McCombs, Herndon und McEntire zu seinen polyrhythmisch gebauten Erlebnisausflügen anhebt, dann ist das alles andere als ein handelsübliches Rockkonzert. Vier Akteure sind am linken Bühnenrand plaziert, zwei bewegen sich im rechten Dritteides Lichtfeldes. Ein Zentrum aber, das klassische Rock’n’Roll-Gelüste verkörpern würde, gibt es nicht. Dafür wechseln die Musiker einfach zu oft Instrumente und Standort, werfen im Vorbeigehen jede Identifikationsmöglichkeit über den Haufen. Tortoise aus Chicago zelebrieren den Stilbruch. Aus Ambient, Dub, Jazz und fernen Erinnerungen an Lounge- und Western-Sounds designen Herndon & Co. vielstöckige Klanggebäude, aus deren Innenhöfen multiple Rhythmen dringen – live von diversen Percussion-Instrumenten, programmierten Parts und „echtem“ Schlagzeug übernommen. Doch was auf Platte unbestritten zu den spannendsten und konsequentesten neuen Rockstatements der 90er zählt, bleibt den Nachweis seiner Live-Faszination am Ende doch noch schuldig. Die Band, versunken in komplexe Strukturen, spielt definitiv für sich selbst. Das Publikum findet in der Live Music Hall nie das entscheidende Maß an Konzentration und Kontemplation, die diese Musik nun mal fordert. Man hätte wohl die ganze Örtlichkeit mit Sofas ausstatten müssen, um einen angemessenen Rahmen bieten zu können.