Tom Waits: Erleuchtung garantiert
Wie einst Springsteen und Guns N'Roses hat nun auch Tom Waits zwei Alben zeitgleich veröffentlicht. Im ME bringt er Licht ins Dunkelseinerversponnenen Gedankenwelt und erklärt: "Wir sind wie die Schnecke, die über eine Rasierklinge kriecht." Michael Tschernek
Hinzu kommen die Veränderungen, wenn erst einmal der Zersetzungsprozess begonnen hat. Du kannst dich erschaffen, wenn du die Szene betrittst. Du machstdeinen Auftritt und entscheidest, ob du etwas erfinden willst oder ob du nur einfach das erforschst, was bereits vorhanden ist. Das liegt in deiner Hand. Du hast die Krawatten deines Vaters, den Hut deiner Mutter, die Schuhe deines Großvaters, den alten Ford von Onkel Charlie, was weiß ich“, sagt er und lacht. „Die Unterwäsche deiner Schwester, das Skateboard von deinem Bruder… Und das baust du alles zusammen und erschaffst etwas, was du selbst bist.“
Interessant ist ebenfalls die Entwicklung der Musik, die Waits in all diesen Jahren erschaffen hat. Immer abseits der populärsten Strömungen zelebrierte er auf seinen Alben für das Elektra/Asylum-Label in den 70er Jahren einen Beatnik-Jazz- und Blues-Stil mit der Melancholie derTin Pan Alley-Schule und der Atmosphäre eines Film noir aus Hollywood. Noch mutiger und eigenwilliger wurde sein Stil, nachdem er in den frühen 80er Jahren seine Frau Kathleen Brennan kennen lernte, die seitdem an allen seinen Arbeiten beteiligt war. Er erweiterte seine bizarre Klangwelt um diverse außergewöhnliche Instrumente wie Harmonium, Mellotron und Marimba und Musikstile wie Ragtime, Polka, Walzer und Kabarett-Songs à la Kurt Weill.
„Als mir die Leute zum ersten Mal gesagt haben, dass meine Musik nach Kurt Weill klingt, habe ich nur geantwortet: Dann sollte ich besser Mal damit anfangen, seine Musik zu hören‘ (lacht). Das habe ich dann auch gemacht und finde seine Arbeit großartig. Die meisten Leute schreiben ihm zu, ein ungewöhnliches Feingefühl für den populären amerikanischen Songgehabt zu haben. Ironie mit einer gewissen Portion boshaftenWitzes-einwenigmakaber.Und das sind Dinge, mitdenen ich mich auch identifizieren kann. Ich höre sehr gerne richtig nette Melodien, die von schrecklichen Geschichten begleitet werden. Und in diesem Sinne empfinde ich auch einegeistige Verwandtschaft zu Kurt Weill. Ich genieße es einfach, etwas Dynamit in den Benzintank zu stecken.“ Eine explosive und exzentrische Mischung, mit der Tom Waits 1983 mit „Swordfishtrombones“ seinen furiosen Einstand für Chris Blackwells Island-Label gab.
Dabei beherrschte er immer die Kunst, auf ausgesprochen schräge Kompositionen eine sanfte melancholische Ballade folgen zu lassen. „Ich bewege mich wie ein Krebs vorwärts. Ein wenig in die eine Richtung und etwas in die andere. Erst versetze ich Ihnen ein paar Ohrfeigen, und danach gehen wir gemeinsam ein Bier trinken, (lacht) Ich weißnicht. Ich liebe Dissonanzen, und ich liebe Melodien. Was macht man, wenn derartig unversöhnliche Einflüsse aufeinandertreffen? Du findest dich irgendwann damit ab. Beim Schreiben versuchst du, diese Dinge in Einklang zu bringen.“
Von Kurt Weill war es nur ein kleiner Schritt zur Theatermusik von „Franks Wild Years“ (1987) und der Musik, die Waits in den folgenden Jahren für die Robert-Wilson-Inszenierungen „The Black Rider“, „Alice“ und „Woyzeck“ geschrieben hat. Die Songs der letzten beiden bilden die Grundlage für seine zwei aktuellen Alben „Alice“ und „Blood Money“. Nachdem über die Jahre vor allem von „Alice“ mehr und mehr Bootlegs kursierten, hat Waits nun alle Kompositionen neu interpretiert und zum ersten Mal selbst mit diversen Musikern aus seinem kalifornischen Umfeld für reguläre Album-Veröffentlichungen aufgenommen.
„Ob du Songs für ein Theaterstück schreibst und sie lediglich einem Ensemble überlässt oder ob du die Sachen selbst aufnimmst, das sind zwei vollkommen unterschiedliche Welten „Alice“ und „Blood Money“ sind zwei richtige Alben. Nicht nur eine beliebige Sammlung von Songs, sondern zwei Song-Zyklen, die auch ohne Theater für sich selbst stehen. Schließlich werden die wenigsten Leute, die diese Alben hören, Gelegenheit haben, „Alice“ oder „Woyzeck“ auf einer Bühne zu sehen.“ Beide Vorlagen erweisen sich natürlich als hervorragendes Terrain für einen Geschichtenerzähler wie Waits. Die Marie in Georg Büchners „Woyzeck“ wird kurzerhand zum „Coney Island Baby“ erklärt, und selbst der ohnehin phantasievollen Welt des Charles Dodgson alias Lewis Carroll kann Waits noch einige spannende Figuren hinzufügen.
„Es ging darum, die Charaktere von ‚Alice im Wunderland‘ auf eine reale Ebene zu holen. Eine Geschichte in der Geschichte, oder vielleicht besser: eine Geschichte neben der Geschichte. Da haben wir Charles Dodgson, der von Alicefasziniert ist, und wir wollen wissen.
wie diese Geschichte heute aussehen würde. In unserer eigenen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Was ist in dieser Welt das Gegenstück zu der Raupe mit der Wasserpfeife, zu der Grinsekatze und dem verrückten Hutmacher? Was sind dasfür Leute? Vielleicht sind das die Menschen aus den ärmeren Vierteln der Stadt, vielleicht sind sie einfach aus der Nervenheilanstalt spaziert, vielleicht arbeiten sie aber auch in der Freakshow des Zirkus, der gerade in der Stadt gastiert. An so etwas haben wir gedacht.“
Das Erzählen von Geschichten ist für den Poeten Tom Waits nicht nur Unterhaltung, sondern eine tägliche Notwendigkeit, ein Mittel zum Überleben. Wenn du mit bestimmten Erinnerungen leben willst, musst du einen Wegfinden, diese zu formen oder zu färben, damit du sie auch weiterhin mit dir herumtragen kannst. Insofern sind wir meines Erachtens alle ein wenig wie die Schnecke, die über eine Rasierklinge kriecht – zwischen den wahren und den erdachten Dingen. Da gibt es doch diesen alten Gedanken: Bin ich ein Mensch, der träumt, ein Schmetterling zu sein, oder bin ich ein Schmetterling, der träumt, ein Mensch zu sein? Vielleicht wachen wir gerade erst auf, wenn wir sterben. Bisher ist noch niemand zurückgekommen, nachdem er gestorben ist, um uns von dieser anderen Seite zu erzählen. Vielleicht beginnt unser Leben erst an unserem Todestag. Wer kann das so genau wissen?“
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