The Velvet Underground
Geschult von den großen Erneuerern der "Ernsten Musik", berauscht von der Wirkung elektrisch verstärkter Sounds und fasziniert von dem, was in den dunkelsten Ecken New Yorks geschah, fanden zwei Künstler zusammen, die sich mindestens so abstießen, wie sie sich gegenseitig anzogen. Und so schufen Lou Reed und John Cale die einflussreichste Rockband der USA.
Es war im April 2011, da versetzte ein lokaler TV-Sender in den USA Teile der Blogosphäre in helle Aufregung. Auf den ersten Blick sendete dieser nur einen Routine-Beitrag über eine weitere Versammlung der rechtsgerichteten „Tea Party“-Bewegung, eines Sammelbeckens für frustrierte bibeltreue Republikaner, Nationalisten und Leute, die Homosexualität für heilbar und Abtreibung für eine Sünde halten. Im provinziellen Georgia trat schließlich eine verhärmte 66-Jährige mit einer Sonnenbrille auf der Nase vor die Kamera, mit einem Groll im Bauch, der sich nicht von dem anderer „Tea Party“-Anhänger unterschied: „Ich bin wütend über die Weise, wie wir in den Sozialismus geführt werden sollen“, sagte sie. Was kaum jemand bemerkte, auch nicht der Sender selbst, wurde von den wenigen, die es wahrnahmen, mit entsetzten Kommentaren verbreitet: Bei der Dame handelte es sich um die Schlagzeugerin der wohl einflussreichsten US-Gruppen überhaupt, Maureen „Moe“ Tucker von Velvet Underground.
An diesem winzigen Auftritt, privat, eigentlich inkognito, entzündete sich eine kontroverse Debatte. Überall konnte man förmlich das Klirren gebrochener Herzen hören, von der einflussreichen Onlinezeitung „The Huffington Post“ bis zur englischen Zeitung „The Guardian“, die der ehemaligen Ikone des Progressiven, die heute als mehrfache Großmutter auf dem Land lebt und bisweilen bei Wal-Mart jobbt, noch weitere weltanschauliche Einlassungen entlockte. Sie sei überzeugt, sagte Tucker, dass Präsident Obama die USA „von innen heraus zerstören“ wolle, deshalb müsse er gestürzt werden. Okay, auch Johnny Ramone war reaktionär und ein Anhänger von Ronald Reagan, Neil Young hat die Republikaner ebenso unterstützt wie Jerry Garcia von den Grateful Dead – aber Moe Tucker? Eine Urmutter des Punk, die stoische Do-It-Yourself-Dilettantin, die legendäre Steh-Trommlerin von Velvet Underground!? Stand sie dort hinter ihrem Schlagzeug doch einst auf der dunklen Seite der Popmusik. In einer Welt der Drogensucht, der Stricher, Schwulen, Lesben und Transsexuellen, der Orgien und des Sadomasochismus.
Damals, Mitte der Sechziger bis Anfang der Siebziger, wollte das allerdings niemand hören. Es gibt kaum eine Gruppe mit vergleichbar legendärem Ruf, die zu ihrer Zeit vom Publikum mit mehr Verachtung gestraft wurde als The Velvet Underground. Nicht, weil sie zu laut, zu zudringlich oder einfach zu schlecht gewesen wären. Sie traten wohl nur einfach zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ins Rampenlicht: 1967 stand der Sommer der Liebe in voller Blüte, es wurde das Zeitalter des Wassermanns beschworen. Abgeworfen war das Joch der Repression und Spießigkeit, und diese Erfahrung der Befreiung wurde ausschweifend gefeiert, die Party war in vollem Gang. Die Gastgeber hießen Byrds, Beach Boys, Procul Harum, Jefferson Airplane, Kinks, Cream, Jimi Hendrix, Simon & Garfunkel. Die Beatles erklommen mit Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band gerade den Gipfel ihrer Popularität. Die Rolling Stones wagten mit Their Satanic Majesties Request einen Ausfallschritt in psychedelische Gefilde, die Neulinge von Pink Floyd bauten sich dort mit The Piper At The Gates Of Dawn gleich einen Palast, und The Who versuchten sich mit The Who Sell Out an humoristischer Konsumkritik.
In diese Welt platzten Velvet Underground wie ein todgeweihter Junkie in einen Blumenkindergeburtstag. Die Welt war bunt – Velvet Underground waren schwarz. Die Zukunft schien hell – Velvet Underground sahen schwarz. Die Welt badete in Wohlklang – Velvet Underground lärmten. Die Welt sang von Liebe – Velvet Underground von Hass, Sucht, Verzweiflung und Tod. Heute allerdings spricht man von den Hippies meist mit einem nachsichtigen Lächeln – Velvet Underground und alles, was sie verkörperten, ist dagegen aktueller denn je.
Überhaupt scheint es, als wäre die Band immer wichtiger geworden, je weiter sie sich von ihrem Ursprung entfernte. Umso seltsamer, da dieser Ursprung kein Urknall war. Sondern ein recht klägliches Verpuffen. Obwohl … so ganz auf taube Ohren stieß das Debüt nicht. Ein gewisser David Bowie bekam von seinem Manager ein noch unveröffentlichtes Exemplar von The Velvet Underground & Nico zu hören, und Jahrzehnte später sollte er in seiner Biografie schreiben: „Alles, was ich über Rockmusik wissen musste, erschloss sich mir plötzlich durch eine einzige unveröffentlichte Platte. Mit dem Spaß war es nun offensichtlich vorbei. Das hier war von einer Coolness, die ich nie für möglich gehalten hatte. Es war überwältigend.“
Erschienen im März 1967, schaffte es The Velvet Underground & Nico mit Ach und Krach auf Platz 171 der US-Charts. Was rückblickend umso verwunderlicher ist, als nicht einmal der Name der Band auf dem Cover prangte – sondern der ihres Mentors, Produzenten und Managers, des wichtigsten Künstlers der Moderne: Andy Warhol. Die Wurzeln von Velvet Underground reichen allerdings zurück bis in die Mitte der Sechzigerjahre, ihr Kern ist die unwahrscheinliche Freundschaft zweier komplett entgegengesetzter Charaktere: Lou Reed und John Cale.
Reed war ein verstörter junger Mann aus guter jüdischer Familie, die ihn zur „Behandlung“ seiner Bisexualität im Alter von 17 Jahren einer Elektroschock-Therapie unterziehen ließ – ein Trauma, von dem sich der Künstler wohl nie ganz erholen konnte. 1964 arbeitete er, der sich das Gitarrespielen vor dem Radio selbst beigebracht hat, als Sessionmusiker für Pickwick Records, ein Label für Tanzmusik. Aus Überdruss an diesem Job komponierte er eines Tages die Single „The Ostrich“, eine Parodie auf die Songs, bei denen er normalerweise nur im Hintergrund mitwirkte: „Yeah, you take a step forward, you step on your head / Now, do the ostrich“. Seine Arbeitgeber sahen in dem Stück ein gewisses Hitpotenzial, und schnell war eine Band gegründet: The Primitives.
Zu der gesellte sich der Waliser John Cale, ein Mitbewohner von Lou Reed, der ebenfalls sein Bündel zu schleppen hatte: In seiner Kindheit wurde er unter anderem von einem Priester missbraucht. Als Wunderkind an der Viola studierte Cale am renommierten Goldsmiths College in London, wo er schnell mit der Avantgarde in Kontakt kam. Als Kunststudent schloss Cale sich begeistert der Fluxus-Bewegung an – nach dem Dadaismus der zweite Großangriff auf das etablierte Kunstverständnis, das als bürgerliche Marotte abgetan und durch den Gedanken ersetzt wurde, dass die Idee wichtiger sei als das Werk selbst. Ihre Anhänger stellten sich radikale Fragen, wie: „Hat der Künstler tatsächlich spezielle Begabungen, die ihn von anderen Menschen unterscheiden?“, oder: „Muss ein Kunstwerk von einem Künstler sein?“ Nein, nein, nein. Fluxus konnte demnach alles Mögliche sein, von Gedichten über Bilder oder Skulpturen bis zu Lichtinstallationen und Tanz, wurde aber meist im Paket als choreografierter Handlungsablauf dargeboten. Man konnte auch „Konzert“ dazu sagen.
Künstler wie Walter de Maria und vor allem La Monte Young übersetzten die Idee des Fluxus in die Welt der Musik. Konkret bedeutete das extremen Minimalismus, hypnotische Wiederholungen und vor allem einen Sound, der als „Drone“ oder „Bordun“ bis heute eine wichtige Rolle in der experimentellen Musik spielt: ein tiefer Brummton, der ursprünglich nur als Begleitung für eine Melodie gedacht war. Simple Mehrstimmigkeit, Klangknoten sozusagen, die einen ganz eigenen Reiz entwickeln. Was heute in so unterschiedlichen Genres wie Ambient oder Doom Metal nachzuweisen ist, war damals der letzte Schrei in der ernsten Neuen Musik. Um diesen Sound zu ergründen, baute La Monte Young sich ein Vehikel namens „Theater Of Eternal Music“, eine Gruppe aus Poeten, Mathematikern, Malern, Tänzern – und talentierten Musikern wie John Cale, der unter anderem auch mit Größen wie John Cage zusammenarbeitete. Dessen berühmtestes Stück, „4’33““, besteht aus vier Minuten und 33 Sekunden reiner Stille, mehr Statement also als Musik. Seine Interpretation von Eric Saties „Vexations“ wiederum war mehr Musik, als irgendeinem Hörer lieb sein kann – die Aufführung dauerte 18 Stunden; u.a. am Piano: John Cale.
Der wollte höher hinaus, und vor allem wollte er raus. Mit der Unterstützung und Fürsprache von keinem Geringeren als Aaron Copland, einem der wichtigsten US-Komponisten des 20. Jahrhunderts, reiste Cale nach New York, um dort seine Studien fortzusetzten – und begegnete Lou Reed. Da hockten sie nun beieinander, zwei nicht eben schlichte und auch nicht eben sonnige Gemüter in der Hauptstadt der Welt. Der eine kam aus der Welt der U-, der andere aus der Welt der E-Musik. Reed bewunderte Cale für dessen akademische Bildung und Offenheit, Cale staunte über Reeds mühelosen Zugang zur Sprache – und die ungewöhnliche Art, seine Gitarre zu stimmen, nämlich jede Saite auf den gleichen Ton. Um den „Drone“ zu erzeugen.
Genau hier, bei der Begegnung von Lou Reed und John Cale, beginnt die damals als undurchlässig geltende Mauer zwischen „ernster“ und „unterhaltender“ Musik zu bröckeln. Beide überführen die Erkenntnisse und die Radikalität der Neuen Musik in den Rock, wobei auch der Minimalismus eine große Rolle spielt. Ihre Musik sollte klingen „wie Phil Spector“, der damals erfolgreichste Produzent prächtiger Popmusik und Schöpfer der „Wall Of Sound“, nur eben mit so wenigen Instrumenten wie möglich.
Hier kam, um den Sound aufzufüllen, Reeds Klassenkamerad Sterling Morrison ins Spiel, als „richtiger Gitarrist“ hinter dem Komponisten und Sänger Lou Reed. Beide sollten sich bei der Lead- und Rhythmusgitarre abwechseln, je nachdem ob John Cale gerade den Bass oder seine elektrifizierte Violia spielte. Hinter dem Schlagzeug kam nach den üblichen Wechseln über die üblichen Wege (jemand kennt jemanden, der jemanden kennt, dessen jüngere Schwester …) Maureen „Moe“ Tucker hinter dem Schlagzeug zum Stehen. Damit war die Kernbesetzung komplett, und nach den üblichen Umbenennungen (Bandnamen, die heute wie müde Witze klingen: The Warlocks! The Falling Spikes!) brachte der befreundete Avantgarde-Künstler Tony Conrad ein Buch über sexuelle Subkultur der 60er-Jahre mit: „The Velvet Underground“ von Michael Leigh. „Samt“ und „Untergrund“, das klang zusammen nicht nur rätselhaft gut, sondern fügte sich auch zu dem Song „Venus In Furs“, den Reed kurz zuvor in Anlehnung an von Sacher-Masochs Klassiker „Venus im Pelz“ geschrieben hatte. Name, Besetzung, Songs, alles komplett – was es jetzt noch brauchte, war ein Wunder.
Das stellte sich kurz vor Weihnachten 1965 ein, am 15. Dezember, einem Mittwoch. Die junge Band trat im angesagten Café Bizarre in der 3rd Street in Greenwich Village unweit des Washington Square Parks auf. Ein schmaler, langgezogener Raum, der Boden voller Sägespäne, Fischernetze hingen von der Decke. Velvet Underground hatten noch nicht genügend eigene Songs, also spielten sie auch Coverversionen, unter anderem von Bob Dylan und Little Richard, aber bitte nicht zu laut: Der Inhaber des Café Bizarre untersagte den Einsatz des Schlagzeugs, sodass Moe Tucker nur ein Tamburin bediente. Außerdem verbot der Inhaber die Aufführung des besonders düsteren „The Black Angel’s Death Song“. Hauptsache, die Band konnte überhaupt irgendwo spielen. Und dass sie an diesem Abend im Café Bizarre spielten, war außerordentlich wichtig. Denn herein kam Andy Warhol mit seiner Entourage, darunter seine tragische Muse Edie Sedgwick. Warhol hatte schon zwei Jahre zuvor versucht, ausgerechnet La Monte Young und Walter de Maria dazu zu bewegen, eine Rockband zu gründen. Was er nun erlebte, war das krachende Rock-Destillat aus den Lehren von Young und de Maria. Warhol war begeistert und fragte Edie Sedgwick: „Was meinst du, sollen wir sie uns kaufen?“
Warhol war zu diesem Zeitpunkt bereits ein viel beachteter Pop-Art-Künstler, der, wie nebenbei, eben auch den Pop ganz entscheidend beeinflussen sollte. Von ihm stammt nicht nur die legendäre Prophezeiung, in Zukunft werde „jeder einmal für 15 Minuten weltberühmt sein“ – sondern zum Beispiel auch die Discokugel. Einer seiner Assistenten schleppte ein solches selbst gebasteltes Glitzerding von einem Flohmarkt an, Warhol ließ es aus einer Eingebung heraus an der Decke anbringen und anstrahlen, fertig war das wichtigste Utensil der Club-Innenarchitektur von damals – bis heute und wohl weit darüber hinaus.
In Warhols „Factory“, einem mit Silberpapier ausgeschlagenen Atelier, gingen die Künstlerinnen und Künstler der Stadt ein und aus, es war ein offenes Haus. Hier ließ er seine Kunstwerke in Siebdruck herstellen, ganz offensiv ohne den genialischen Anspruch, nur der Künstler selbst könne sein Werk signieren. Im Zeitalter der Reproduktion setzte Warhol, sowohl als ironische Geste als auch überaus geschäftstüchtig, auf Massenware, erklärte sein Atelier zur Fabrik – und war rastlos mit zahllosen Projekten beschäftigt und damit, um jeden Preis die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Nach dem Konzert wurden sich Velvet Underground und Andy Warhol schnell handelseinig: Warhol würde sie unter seine Fittiche nehmen und das Geld für ein Studio hinblättern, der Band bliebe jede künstlerische Freiheit. Kurz darauf spielten Velvet Underground absichtlich „The Black Angel’s Death Song“, um aus dem Vertrag mit dem Café Bizarre entlassen zu werden.
Natürlich hatte Warhol wie mit allen Menschen, mit denen er sich umgab, auch mit Velvet Underground seine Pläne. Vor allem der markante und attraktive Lou Reed bezauberte den Künstler. Musiker kleideten sich zu jener Zeit vorzugsweise in Batik oder noch weitaus farbenprächtigeren Fantasieuniformen. Reed erklärte öffentlich, er wäre gerne ein Transvestit, zeigte sich aber in machohaftem Leder. Diese Ambivalenz reizte Warhol mindestens ebenso wie die eher schroffe Androgynität von Moe Tucker, bei der man beim besten Willen nicht sagen konnte, ob sie Frau oder Mann war.
Warhol ermunterte die Band, mehr eigene Songs zu schreiben und nicht den Fehler zu begehen, ihre drastische Sprache zugunsten besserer Verkäuflichkeit abzumildern. Und er legte ihr kaum einen Monat später ein ganz besonderes Ei ins Nest: das deutsche Model Christa Päffgen. Die war, im Gegensatz zu den Geschöpfen von Warhols Gnaden, bereits ein Star aus eigenem Recht. In Paris modelte sie unter anderem für Coco Chanel, in New York hatte sie die Schauspielschule von Lee Strasberg besucht, Federico Fellini gab ihr eine Rolle in „La Dolce Vita“. Sie hatte eine Affäre mit Alain Delon, der – was er bis heute bestreitet – möglicherweise der Vater ihres Sohnes Ari sein könnte. Und in London hatte sie Rockstars wie Brian Jones kennengelernt, und auf dem Label von Andrew Loog Oldham, dem Manager der Rolling Stones, war 1965 bereits eine Single von ihr erschienen: „I’m Not Sayin'“.
Da erscheint es heute fast logisch, dass Nico – wie sie sich nannte – gleich nach ihrer Übersiedlung nach New York in Warhols „Factory“ aufkreuzte. Der war, wie so oft, begeistert und ließ seine bisherigen Musen fallen: „Nico war ein weiblicher Superstar neuen Typs“, sagte er später: „Baby Jane und Edie waren Auslaufmodelle, amerikanisch, umgänglich, hell, aufgeregt, verquasselt – während Nico schräg und wortkarg war.“ Die Deutsche würde sich eher unter dem Tisch verstecken, als darauf zu tanzen.
Warhol stellte die „unglaubliche deutsche Schönheit“ der Band kurzerhand als zusätzliche Sängerin vor. Während Moe Tucker die Konkurrentin als „pain in the ass“ bezeichnete, schluckte Lou Reed den Haken sammt Köder – und stürzte sich in eine stürmische Affäre mit dem Model. Nico war also dabei, und nicht nur das: Die Band akzeptierte sogar ihre Umbenennung in „The Velvet Underground & Nico“. Zwar prädestinierte ihr kalter, hohler, leiernder Gesang Nico kaum zur Frontfrau einer Rock’n’Roll-Band – die teutonische Härte in ihrem Akzent aber wurde gerade von einem US-Publikum als exotisch und schick empfunden. Rammstein „avant la lettre“, sozusagen.
Noch vor den Aufnahmen zum ersten Album „testete“ Warhol seine Gruppe auf spektakuläre Weise im Rahmen seiner an Fluxus und Happening angelehnten Aktionskunstreihe „Exploding Plastic Inevitable“. Am 13. Januar 1966 war Warhol, mehr aus Jux, als Gast zu einer Psychiater-Tagung eingeladen. Er erschien tatsächlich – und ließ seine Puppen tanzen. Nico sang, die Velvet Underground machten Krach und trugen wegen der schrillen Lightshow Sonnenbrillen. Ein Kamerateam überfiel die festlich gekleideten Seelenärzte nebst Gattinen mit Blitzlichtern, Mikrofonen und offensiven Fragen: „Wie fühlt sich die Vagina Ihrer Frau an?“ – „Ist sein Penis groß genug?“ – „Lecken Sie sie?“ – „Stören Sie diese Fragen? Sie sind doch Psychiater, da sollte Sie das nicht stören …“ Der bizarre Überfall erreichte sein Ziel und verschaffte Velvet Underground eine erste Erwähnung in der „New York Times“.
Warhol, zufrieden, bezahlte danach das Studio für das erste Album. 2 500 Dollar für drei Tage, in denen Warhol als „Produzent“ herumsaß und toll fand, was er hörte. Im Gegensatz zum Toningenieur, der gefragt haben soll: „Sind Sie sicher, dass es sich so anhören soll?“ Neben den eigentlich ganz herkömmlichen, wenngleich zeitlosen Kompositionen von Lou Reed war „es“ vor allem die Bratsche von John Cale, die oft auf einer einzigen Note beharrte und manchmal klang wie ein Düsentriebwerk: White Noise. Und während andere noch die Segnungen von LSD besangen, erzählte Lou Reed schon von der Vorhölle, an einer Straßenecke im Nieselregen auf einen Dealer zu warten („I’m Waiting For The Man“). Warhol war sich sicher, dass es so klingen sollte.
Für ein paar Monate steuerte er die Band wie ein Regisseur seine Schauspieler. Sein Cover für das Album wurde zu einem Meilenstein des Pop-Artworks. Es zeigte nur seinen Namen auf weißem Grund und eine phallische Banane mit dem Zusatz: „Peel slowly and see“. In der ersten, limitierten Auflage ließ die Schale der Banane sich abziehen, zum Vorschein kam rosa eingefärbtes Fruchtfleisch. Plattenfirmen allerdings interessierte die Verpackung wenig. Eine lehnte das Album ab, weil sie „keine Drogensongs“ veröffentlichen wollte, eine andere mochte „keine Bratsche“.
Als es dann doch erschien, wollte es kaum jemand kaufen. Zuerst stieg Nico aus (besser: wurde ausgestiegen), Velvet Underground produzierten mit White Light/White Heat eine noch radikalere Platte, dann ging auch John Cale, und als auch Reed seine erfolgreiche Solokarriere startete, eierten Velvet Underground um ihre Rhythmusgruppe herum noch eine Weile kopflos weiter, bevor sie sich – bis zu einer kurzlebigen Reunion in den Neunzigern – auflösten, ihre Mitglieder sich in alle Winde verstreuten und ihren eigenen Schicksalen überlassen blieben.
Bleiben sollte vor allem der erste Entwurf, der ein so großer Wurf war, dass, obschon sang- und klanglos untergegangen, sein Echo noch heute überall zu hören ist. Niemand brachte es besser auf den Punkt als Brian Eno, der den berühmten Satz prägte: „Vom ersten Velvetunderground-Album wurden nur 10 000 Exemplare verkauft, aber jeder, der es kaufte, gründete eine Band.“ Müsste man ihre kulturellen Verdienste und den Pop des 20. Jahrhunderts auf einen noch knapperen Punkt bringen, dann ließe sich sagen: Velvet Underground haben die Finsternis in die Musik gelassen.
Velvet Underground
inspiriert von
The Beatles
La Monte Young
The Rolling Stones
Phil Spector
Carole King
John Cage
haben inspiriert
David Bowie
Yo La Tengo
Pavement
Sonic Youth
Depeche Mode
Brian Eno
5 Songzitate für die Ewigkeit
Here he comes, he’s all dressed in black / PR shoes and a big straw hat / He’s never early, he’s always late / First thing you learn is you always gotta wait / I’m waiting for my man
(„Im Waiting For The Man“)
‚Cause when the smack begins to flow / Then I really don’t care anymore / Ah, when the heroin is in my blood / And that blood is in my head / Then thank god that I’m as good as dead / Then thank your god that I’m not aware / And thank god that I just don’t care / And I guess I just don’t know / And I guess I just don’t know
(„Heroin“)
And what costume shall the poor girl wear / To all tomorrow’s parties / For Thursday’s child is Sunday’s clown / For whom none will go mourning
(„All Tomorrow’s Parties“)
I am tired, I am weary / I could sleep for a thousand years / A thousand dreams that would awake me / Different colors made of tears
(„Venus In Furs“)
You’re written in her book / You’re number 37, have a look / She’s going to smile to make you frown / What a clown / Little boy, she’s from the street / Before you start, you’re already beat
(„Femme Fatale“)
The Velvet Underground für Kenner
Der Song „The Gift“ von White Light/White Heat basiert auf einer Kurzgeschichte, die Lou Reed für seinen Englischkurs an der Universität geschrieben hat. Sie handelte von einem Mann, der sich selbst seiner Geliebten per Post schickt – und versehentlich erstochen wird, als die Angebetete den Brieföffner zur Hand nimmt und … John Cale überzeugte Reed, die Geschichte zu vertonen.
Die „samtene Revolution“ in der Tschechoslowakei könnte, zumindest in Teilen, auf Velvet Underground zurückgehen. Der Autor, Dissident und spätere Präsident Václav Havel brachte ihre Platten von einer US-Reise mit und in Prag in Umlauf. Daraufhin gründeten sich zahlreiche Bands, darunter The Plastic People Of The Universe, angelehnt an Warhols Veranstaltungsreihe „Exploding Plastic Inevitable“, die immer wieder gegen das kommunistische Regime opponierten.
Moe Tucker war nicht nur eine der ersten, sondern auch eine der unkonventionellsten Schlagzeugerinnen in rock. Sie spielte im Stehen und sogar die Bassdrum mit der Hand. Tucker bevorzugte Tempowechsel, wie sie aus der klassischen Musik bekannt sind (Hörprobe: „Heroin“) und etablierte einen Do-It-Yourself-Ethos, der ihr später gerade in der Punk-Gemeinde einen legendären Status einbrachte. Als ihr einmal auf Tournee das Equipment gestohlen wurde, trommelte sie kurzerhand auf Mülltonnen.
Ihre erste und einzige Europa-Tournee absolvierten die original Velvet Underground erst bei der Reunion 1993. Geplant war eine Tour im Winter 1967, doch wegen des Todes des Stones-Managers Brian Epstein, der diese organisieren wollte, wurde nichts daraus. 1971 spielte die Band zwar in Europa – bis auf Moe Tucker war da aber schon kein Original-Mitglied mehr dabei.
Die 10 besten Coverversionen
1. „Candy Says“ Antony And The Johnsons (B-Seite der Single „For Today I Am A Boy“)
2. „All Tomorrow’s Parties“ Nick Cave & The Bad Seeds (Kicking Against The Pricks, 1986)
3. „After Hours“ R.E.M. (B-Seite von „Losing My Religion“, 1991)
4. „Candy Says“ Garbage (B-Seite von „Breaking Up The Girl“, 2001)
5. „Here She Comes Now“ Nirvana (Compilation Heaven & Hell – A Tribute To The Velvet Underground, 1990)
6. „Heroin“ Pere Ubu (Ubu Unchained, 1998)
7. „I’m Waiting For The Man“ David Bowie (Live Santa Monica ’72, 2008)
8. „Venus In Furs“ Melvins (Leech, 1996)
9. „I’m Waiting For The Man“ Belle & Sebastian (The BBC Sessions, 2008)
10. „Sister Ray“ New Order (BBC Radio 1 Live In Concert, 1991)
Wo sind sie hin?
Lou Reed
blickt auf eine lange und wechselvolle Karriere zurück, zuletzt veröffentlichte er zusammen mit Metallica das Album Lulu. Er ist mit der Performance-Künstlerin Laurie Anderson verheiratet.
John Cale
hat sich vorübergehend aus dem Popgeschäft zurückgezogen, in diesem Jahr wird aber ein neues Album erwartet.
Sterling Morrison
lebte als Session-Musiker in Texas, war bei der Reunion 1992 mit von der Partie und starb 1995 an Krebs.
Moe Tucker
nahm eine Reihe von Soloalben auf und lebt heute als Gelegenheitsdrummerin und Großmutter in den USA.
Andy Warhol
überlebte 1968 ein Attentat und schloss seine „Factory“, er starb 1987 nach einer Gallen-blasenoperation.
Nico
produzierte mit John Cales Unterstützung noch ein paar beeindruckende Alben, zehrte von ihrem Nachruhm und starb 1988 nach einem Herzinfarkt beim Fahrradfahren auf Ibiza.
Edie Sedgwick,
das prototypische „It-Girl“, hatte noch eine Liaison mit Bob Dylan und starb mit nur 28 Jahren an einer vermutlich versehentlichen Überdosis Schlaftabletten.
Walter de Maria und La Monte Young
leben, lehren und arbeiten bis zum heutigen Tag.
Die besten Alben
The Velvet Underground – The Velvet Underground & Nico (1967)
In seiner düsteren Eindringlichkeit vereint das Debüt der Band mit dem It-Girl-Gaststar experimentelle Entwürfe mit der rohen Energie des Rock, ergänzt um die ernste lyrische Stimme von Lou Reed und die kalte ätherische Stimme von Nico. John Cales Viola spielt die Hauptrolle, aber auch das ungewöhnlich primitive Schlagzeugspiel von Moe Tucker trug viel zum Reiz dieses Albums bei, das heute auch als Blaupause für den Punk gehört werden kann, den es um viele Jahre vorwegnahm.
The Velvet Underground – White Light/White Heat (1968)
Der Vorgänger war schon meilenweit am Publikumsgeschmack vorbeigeschrieben, und White Light/White Heat (eine Anspielung auf den Speed-Rausch) drang noch radikaler in den Bereich experimenteller Musik vor. Vor allem das 17-minütige „Sister Ray“ gilt als Meilenstein des progressiven Avantgarde-Rock, verzerrt und von Feedbacks förmlich durchlöchert. Hörenswert auch die aggressiven Gitarrensoli bei „I Heard Her Call My Name“.
The Velvet Underground – Peel Slowly And See (1995)
Dieses Box-Set umfasst in 380 Minuten (so gut wie) alles, was Velvet Underground aufgenommen haben, also die ersten beiden Platten sowie The Velvet Underground (1969), Loaded (1970) und Live- und Demoversionen bekannter Songs. Sozusagen aus der Familie ausgestoßen wurde hier jedoch Squeeze, das 1973 erschienene letzte Album unter dem Namen The Velvet Underground – aber da war von den ursprünglichen Mitgliedern tatsächlich überhaupt niemand mehr an Bord.
Lou Reed – Transformer (1972)
Am besten war Reed immer dann, wenn er zurückblickte auf seine Zeit in der „Factory“. So war sein erstes Solo-Album in weiten Teilen eine Reminiszenz an die Vergangenheit. „Walk On The Wild Side“, neben „Satellite Of Love“ der zweite Hit auf dem Album, beschäftigt sich – Strophe für Strophe – mit Gestalten aus dem Umfeld Andy Warhols. Das Narrative, Warme steht im Vordergrund, bisweilen wirkt Reed hier wie ein Folksänger. Produziert wurde das Album von David Bowie und dessen Kumpel Mick Ronson.
Nico – Chelsea Girl (1967)
Was Velvet Underground an Zärtlichkeit abging, gibt es hier. Reed, Cale und Morrison beteiligten sich an den Aufnahmen, die Songs waren unter anderem von Bob Dylan, Tim Hardin und Jackson Browne. Nico hatte kein Mitspracherecht bei der Produktion, sie hatte sich eigentlich ein härteres Album mit mehr Gitarren gewünscht. Stattdessen gab es hier Streicher und Flötentöne satt, was die Chanteuse mit bitteren Tränen quittiert haben soll. Chelsea Girl ist das zugänglichste Album von Nico, ohne Bass, ohne Schlagzeug, zeitloser, traurig-schöner Kammerpop mit Folk-Einschlag.
John Cale – Paris 1919 (1973)
Das Album gilt als das zugänglichste und schlicht schönste Werk von John Cale. Melodiös, mellow und melancholisch. Eingespielt wurde es mit Musikern von Little Feat. Streichergesättigte Miniaturen wie das Titelstück, „Antarctica Starts Here“, „Andalucia“ oder „Hanky Panky Nohow“ sind Stücke für die Ewigkeit. Beim Hören beschleicht einen heute noch ein leises Bedauern darüber, dass Cale seine Songwriting-Talente nicht schon früher, bei Velvet Underground und an der Seite von Lou Reed, zur vollen Entfaltung gebracht hat.
Lou Reed & John Cale – Songs For Drella (1990)
Bei der Beerdigung von Andy Warhol sprachen Lou Reed und John Cale erstmals seit Jahren wieder miteinander – und über die Idee, ein Album „in memoriam“ Andy Warhol aufzunehmen. Das Ergebnis ist ein Mini-Folk-Musical, im besten Sinne erzählerisch angelegt und Warhol (Drella war sein Spitzname) umkreisend, der hier auf gespenstische Weise präsent wird. Schroffe Gitarren, schlaues Keyboard, große Melodien und berührender Sprechgesang – stellenweise klingt Songs For Drella wie eine 1990er-Version von Velvet Underground.
Im nächsten Heft: ME-Helden, Teil 10 – fehlfarben