The National live in Berlin: So spielen Rockstars auf, die nie mehr welche werden
Wie eine Schlacht unter guten Freunden: The National spielen zwei ausverkaufte Konzerte im Berliner Tempodrom. Wir waren beim ersten dabei.
Gewonnen hatten sie den Abend schon an dessen Anfang. Um 21:10 Uhr, rund 40 Minuten nachdem eine eher anstrengende Lisa Hannigan die Bühne verließ und drei Minuten, bevor sie als überzeugendere Gastsängerin wiederkommen würde, betraten The National die Bühne des ausverkauften Tempodrom in Berlin. Sie taten das so, wie es amerikanische Talkmaster, Wrestler oder Profifußballer tun: Von Kameras ließen sie sich durch die Backstage-Katakomben begleiten, liefen irgendeinen schmalen Flur und eine kleine Treppe entlang, während man ihren Weg live auf der Leinwand mitverfolgen konnte – und standen schließlich da. Die aus Indiemädchen, Paaren und Ü-30-Geeks bestehende Menge jubelte, so wie sie es noch öfter an diesem Abend tun würde – und was machte Sänger Matt Berninger? Quatschte und sang sich erstmal warm.
Die ersten Minuten des ersten von zwei ausverkauften Konzerten im Berliner Tempodrom wirken wie eine öffentliche Probe. Nicht, dass The National die nötig hätten: Die Tour zu ihrem neuen Album SLEEP WELL BEAST führte sie zuletzt für einen ebenfalls ausverkauften Abend in die Hamburger Elbphilharmonie, für vier Konzerte in Folge nach London und davor und danach für etliche weitere Doppelshows nach Edingburgh, Manchester, Oslo, Brüssel, Stockholm, zurück nach Nordamerika und so weiter. Ein Siegeszug, wie es ihre Touren seit Jahren und Alben sind. Und das von einer Band, die mit Siegerposen so gar nichts gemein haben will. „Da steht ein Ding, das ich nicht kenne – also habe ich meinen Drink darauf abgestellt“, sagt Berninger im Bariton und wundert sich mutmaßlich selbst über den kleinen Bruch der Routinen, die eine Tour einer Band der Größenordnung von The National so mit sich bringen müsste. Aber nein, das hier ist keine Routine: Bereits beim zweiten Song, der fantastischen Single „The System Only Dreams In Total Darkness“, wirft der 1,91 Meter große Schlacks sich ins Publikum, schreit so sehr, wie man im Kosmos von The-National-Songs nun mal schreien kann, offenbart dabei seine stimmlichen Grenzen und seine größten Talente neben seinem Brummeln: Charisma und Stil.
Wie eine gewonnene Schlacht
Was in den nächsten zwei Stunden und 15 Minuten folgt, ist nicht weniger als eine ausgewachsene Rockshow einer Band, die mit Rockismen eigentlich nichts am Hut hat: The National legen den Schwerpunkt auf ihre neuen Songs, darunter die Singles „Guilty Party“, „Carin At The Liquor Store“ und das hitverdächtige „Day I Die“ sowie den Anti-Trump-Klopper „Turtleneck“ und das raue „Walk It Back“. Klassiker wie „Bloodbuzz Ohio“ und „I Need My Girl“ – wieder mit Hannigan und Pauken, Bläsern, Basswummern und Magengrubenschmerzen – bräuchten keine achtköpfige Instrumentierung und Lichtershow, um The Nationals Größe zu untermauern, aber sie beeindrucken damit noch nachhaltiger. Zwischendurch danken die Musiker ihren Freunden vom Berliner Michelberger Hotel, wo vor vier Jahren ihr Album TROUBLE WILL FIND ME Live-Weltpremiere feierte. SLEEP WELL BEAST sei teilweise während des Michelberger Music Festival 2016 entstanden, sagt Berninger. Und immer dann, wenn der Abend ins zu Schwermütige zu kippen droht, hechtet er wieder ins Publikum oder erzählt subtile Anekdoten. Die Textzeile „I have dreams of anonymous castrati“ aus ihrem Song „Dark Side Of The Gym“ zum Beispiel, die missverstehe seine Tochter stets als „I missed karate“, andere als „Big Pastrami“.
Von diesen fünf eigentlich so unscheinbaren Männern plus ihrer Live-Verstärkung an Bläsern und Tasten bleibt Berninger nicht der einzige, der einen Ausbruch wagt: Leadgitarrist Bryce Dessner mag aussehen wie ein Angelgeschäftbetreiber aus Upstate New York, vielleicht auch wie ein Literatur-Dozent. Aber das, was er aus seinem Hauptinstrument herausholt und wie er The Nationals Songs und seine Mitmusiker in Szene setzt, ist schlichtweg Weltklasse. Er spielt stellenweise wie ein Junge das letzte Level seines Lieblingsvideospiels, völlig versunken und doch hochkonzentriert.
Und während in „Fake Empire“ und im von Publikum und Band a-cappella gesungenen „Vanderlyle Crybaby Geeks“-Finale die ganze Erhabenheit von The National kulminiert, will man sich kaum ausmalen, wie unsterblich diese Band werden könnte, wenn Dessner und Co. doch bloß Typen mit mehr Identifikationspotential wären. Und dann das: Plötzlich, es muss zum Ende von „Terrible Love“ passiert sein, reißen die Dessner-Zwillinge – Aaron ist zwischenzeitlich von den Keyboards an den Bass gewechselt, Bassist Scott Devendorf spielt die zweite Gitarre – ihre Instrumente in die Höhe, als ob sie Slash und Angus Young wären, oder als ob sie eine Schlacht gewonnen haben, bei der es nur Freunde statt Feinde gab (haben sie ja!). Und dann bekommt man eben doch eine Ahnung davon, was The National sein könnten, wenn sie es denn wollten: verdammte Rockstars. Aber so einfach werden sie es sich zum Unverständnis anderer Legenden wie Michael Stipe nie machen. Was für ein Glück.