Talking Heads – Naked
Das hat es schon lange nicht mehr gegeben - bis zum November 1986 mußten wir zurückblättern, um einen ähnlich überragenden MÜV-Sieger zu finden. Das neue Werk der Talking Heads löste aber auf der Stelle eine Massen-Hypnose bei den Musik-Prüfern aus. Kein Wunder: Naked ist ein Meisterwerk.
Die Musiker um Ober-Kopf David Byrne haben nach den Ausflügen in die musikalischen Urlandschaften ihrer amerikanischen Heimat wieder zu den Wurzeln der Band zurückgefunden. Waren LITTLE CREATURES und vor allem das 86er Album TRUE STORIES mehr von Country- und Rock-Einflüssen geprägt, schließen die Talking Heads mit NAKED jetzt den Kreis zu den magischen Songs früherer Jahre.
Dafür gingen sie einen vollkommen neuen Weg: Die vier Köpfe brachen den, wie Byrne sagt, „neuen Kultur-Isolationismus der USA“ auf, indem sie NAKED mit einer Gruppe nordafrikanischer Musiker in Paris einspielten. Sie nutzten dabei – anders als viele Kollegen, die vor allem aus finanziellen Gründen in Paris aufnehmen – die Qualitäten der dortigen Musikszene aus.
Dieser Einfluß des kulturellen Schmelztiegels der französischen Hauptstadt zieht sich durch alle Songs des Albums: in wochenlangen Sessions mit Musikern aus Marokko und Algerien entwickelten sich Stücke auf der Basis von Musikrichtungen wie Tango, Samba, Rai und Zouk, allesamt Rhythmen, die eigentlich aus Südamerika und der Karibik stammen, inzwischen aber in der Pariser Szene zu einer eigenständigen Stilrichtung zusammengeschmolzen sind.
Schon der Opener „Blind“ zeigt mit hypnotischem Groove und rasanten Bläser-Riffs (Arrangeur: Angel Fernandez von der Celia Cruz Band) den ganzen Zauber, den die Band gemeinsam mit dem Produzenten Steve Lillywhite in das Album gepackt haben. Das ist ein neuer David Byrne, nicht mehr der kühle Intellektuelle mit dem nervösaggressiven Gesang, sondern der Schamane, der seine Stimme etzt in einer Mischung aus Lautmalerei und Rhythmik gezielt einsetzt. In Sachen Songschreiben hat sich der Ober-Kopf diesmal eher als Dirigent denn als der Chef-Komponist in Szene gesetzt.
Und darin liegt wohl auch der wesentliche Unterschied zu den beiden letzten Alben: Die Musiker groovten stundenlang, ein Song entwickelt sich, oft wie von selbst, in eine unvorhergesehene Richtung, alles wirkt weniger festgeschrieben.
War früher die Frage „Lassen wir noch eine Conga draufspielen“ eher lästig, ist bei dem neuen Album die Percussions-Armee für die Musik bestimmend. NAKED ist der dritte mögliche Weg, so etwas wie Welt-Musik zu spielen. Paul Simon zog sich bei dem GRACELAND-Projekt weitgehend auf die Funktion des Exporteurs zurück und ließ die südafrikanischen Musiker ihre Sache machen. Kollegen wie Peter Gabriel bauen einzelne Ethno-Elemente in ihre Songs ein.
Die neuen Talking Heads liegen genau dazwischen, sie sind die Alchemisten des Pop: NAKED ist einer der ersten Versuche, aus Blei und Säure Gold zu erzeugen: Auf dem Album verschmelzen anglo-amerikanische, karibische und nordafrikanische Musik-Traditionen tatsächlich zu einem neuen Stil.
Bei aller Freude bleibt für Talking Heads-Fans freilich ein Haar in der Suppe: Die einzelnen Köpfe sind mit ihren Solo-Projekten (Tom Tom Club, Casual Gods und Byrnes geplante Arbeit mit Wim Wenders) so beschäftigt, daß sie, zumindest 1988, keine Konzerte geben werden.
DAS COVER
David Byrne ist nicht nur musikalisch ein Perfektionist; er kümmert sich auch bis ins Detail um die Covergestaltung. Und für NAKED wollte er etwas besonders Ausgefallenes haben: Die Plattenhülle sollte ein Klapp-Cover aus den 70er Jahren werden – die Platte kann nur von innen aus dem aufgeklappten Umschlag entnommen werden. Pech für die Band: Auf der ganzen Welt gibt es keine Herstellungsmaschine für solche Cover mehr. Byrne überdenkt deshalb jetzt alles neu. Ob der geplante Veröffentlichungstermin (17. März) unter diesen Umständen noch eingehalten werden kann, war bei Redaktionsschluß unklar.
David Byrne über das neue Album
„Bereits Wochen vor dem Paris-Aufenthalt probte die Band in einem kleinen New Yorker Studio. Die dort entstandenen Improvisationen wurden alle auf Cassette aufgezeichnet. Manchmal tauschten wir dabei auch die Instrumente untereinander aus, wie wir das schon in der Vergangenheit gemacht hatten: Tina spielte Gitarre, ich Baß, Chris Synthesizer und Jerry kreierte Rhythmen auf dem Drum-Computer. 40 verschiedene Grooves kamen dabei heraus, von denen einige in Paris als Grundlage dienten. Oft waren sie einfach Ausgangspunkt für etwas ganz Neues, das mit dem Original nichts mehr zu tun hatte. In Paris stießen weitere Musiker zu Producer Steve Lillywhite und der Band hinzu, darunter der Gitarrist Yves N’Djock, ein Perkussionist und manchmal Keyboarder Wally Badarou. Diese sieben oder acht Musiker waren oft den ganzen Tag im Studio, bis man sich abends für eine Version entschied. Noch ohne Melodie und Text, denn nur so, ohne eine vorher entwickelte Struktur von Melodie und Text, hatten die Musiker die größte künstlerische Freiheit. Als auf diese Weise genug Stücke entstanden waren, machte man noch einige Overdubs und ich improvisierte Melodien zu dem schon aufgenommenen Material. Meine Texte waren einfach Laute, die zu den Melodien paßten. Erst in New York begann ich dann nach konkreten Worten zu suchen, die diesen Lauten entsprachen. Diese Art zu arbeiten machte einen ständigen Prozeß musikalischer, besonders melodischer Weiterformung möglich, so daß ein Song oft völlig anders beginnt als er schließlich aufhört.“