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Stereolab: Pop vom Kampfstern Politica


Niemand überführte Indie-Rock so zielsicher in die Moderne, wie Stereolab das taten. Das Ende war zunächst tragisch, dann trostlos. Gut, dass die Gruppe sich im Jahr 2019 revitalisierte. Gebraucht wird sie nämlich noch.

Vor Stereolab gibt es McCarthy, und wir müssen zunächst über diese Gruppe reden, sie war zu wichtig, um sie unter den Tisch fallen zu lassen. Zumal ihre Geschichte auch etwas über die Ursprünge von Stereolab erzählt. Malcolm Eden, Tim Gane, John Williamson und Gary Baker gründen McCarthy 1984 in Barking, weit im Osten von London. Bis in die 70er-Jahre hinein ist der Stadtteil stark von der Industrie geprägt, das Themse-Ufer zieht Betriebe an, die Menschen arbeiten in den Docks oder pendeln nach London. Ihr Zuhause finden viele der Leute in Becontree, einer riesigen Siedlung von Reihenhäusern, errichtet von der Stadt, um den Londoner Familien günstigen Wohnraum zu bieten. Barking steht damit zunächst fest auf den Säulen des früher einmal starken britischen Sozialstaates.

Margaret Thatchers eiserner Besen

Als sich die vier Schüler erstmals treffen, ist das Solidaritätsprinzip aber bereits von Rost durchsetzt, in Barking wie überall sonst im Königreich. Seit fünf Jahren regiert Margaret Thatcher, sie dominiert ihre Konservative Partei, reißt das Land an sich. Ab 1984 fegt sie mit ihrem eisernen Besen durch Großbritannien: Als die Bergarbeiter streiken, um für mehr Mitbestimmung zu kämpfen, zeigt sie sich stur, nennt die Gewerkschaften „Feinde des Inneren“, bekämpft sie mit der Polizei und gewinnt die Machtprobe, weil den Streikenden irgendwann das Geld ausgeht. Thatcher rächt sich für den Aufruhr, indem sie Gesetze auf den Weg bringt, die das Recht der Gewerkschaften aushöhlen, was schließlich dazu führt, dass die „Unions“ dramatisch an Mitgliedern verlieren und Dutzende ehemals staatliche Unternehmen privatisiert werden.

Das sind die 50 besten Punk-Alben aller Zeiten

In Barking entwickelt sich eine junge Szene, die Politik und Pop zusammendenkt. Als Impulsgeber fungiert weiterhin der Punk, die rohe Energie der Sex Pistols, vor allem aber die Informiertheit von The Clash, deren Album SANDINISTA! nicht nur wegen der Musik gehört wird, sondern auch wegen der Texte. Die Kritik an der US-amerikanischen Außenpolitik in „Washington Bullets“, der Antimilitarismus von „Thee Call Up“, der Verweis auf die nicaraguanischen Sozialisten von der Sandinista National Liberation Front – das Album zu hören, ist wie Zeitung zu lesen.

„The enemies within“

Malcolm Eden, Tim Gane, John Williamson und Gary Baker nennen ihre Band McCarthy, in Erinnerung an Joseph McCarthy, den republikanischen Politiker in den USA, der in den 50er-Jahren nicht müde wird, zu schwadronieren, die Nation werde von Sozialisten, Kommunisten und russischen Spionen durchsetzt – und könne sich nur wehren, indem sie jeden einzelnen Linksdenkenden denunziert. Gerne spricht er von den „Enemies within“, er gibt damit Thatcher die Vorlage für ihren Kampfbegriff gegen die Gewerkschaften.

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Die Band McCarthy, zu der 1988 die Sängerin Lætitia Sadier aus Paris stößt, thematisiert in ihren Texten die Ohnmacht der Linken und die Allmacht des Kapitalismus. Sie tut das sehr klug, nimmt sich das Brecht’sche Theater zum Vorbild, indem sie für ihre Songs Protagonisten findet, mit denen sich die Zuhörer nicht identifizieren können. „Es gibt nichts Schlimmeres, als deine Meinung über Leute auszukippen, die diese Meinung sowieso teilen“, definiert Malcolm Eden später den Ansatz von McCarthy.

Ein Patchwork aus Postmoderne und Retromania

McCarthy stehen mit ihrer Idee von politischem Pop nicht alleine, in England haben Gang Of Four und Scritti Politti es vorgemacht, in Irland verfolgen Microdisney (deren Co-Songwriter Sean O’Hagan später zu Stereolab stößt) ähnliche Ideen, und in Wales hören vier junge Männer sehr genau zu und gründen 1986 die Band Manic Street Preachers. Was man bei allem Einfluss von McCarthy aber auch sagen muss: Die Gruppe klingt nach einer recht gewöhnlichen Gitarrenband, problemlos passt einer ihrer Songs auf die legendäre NME-C86-Tape-Compilation des „New Musical Express“.

Manic Street Preachers distanzieren sich von Biopic über Richey Edwards

Als sich die Band Ende der 80er-Jahre auflöst, entsteht bei allen Beteiligten der große Wunsch, in einer neuen Formation nicht nur ungewöhnliche Worte, sondern auch eine ungewöhnlichere Musik zu spielen. Lætitia Sadier und Tim Gane gehen sogar noch weiter: Sie gründen mit Stereolab eine Band, die 1990 bereits Postmoderne und Retromania zusammendenkt, indem sie eine neue Musik als Patchwork bekannter Einflüsse erschafft, sich nach einer Hi-Fi-Effekte-Tochterfirma des Labels Vanguard Records benennt und das Ziel hat, ihre Platten nur in limitierten Vinylauflagen in Sieben- und Zehnzollgröße zu veröffentlichen. Würde ein Band heute im Jahr 2019 einen solchen Kosmos aufbauen, würde man das cool finden. 1990 ist das, was Stereolab vorhaben, sensationelle Pionierarbeit.

Sadier und Gane wissen, was sie wollen – und was nicht

Sadier und Gane lernen sich 1988 in Paris kennen, McCarthy sind zu Gast in der Stadt. Sadier lebt seit ihrer Kindheit kosmopolitisch, Ende der 80er-Jahre ist sie gelangweilt von der französischen Rockszene und folgt Tim Gane nach England. Die beiden werden ein Paar, auf dem letzten Album von McCarthy ist sie bereits als Sängerin zu hören. Das künstlerische Konstrukt Stereolab wirkt von Beginn an komplex, doch Sadier und Gane wissen, was sie wollen – und was nicht.

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Sie gründen Duophonic, ihr eigenes Label, 1991 erscheint die erste EP „Super 45“, ein Do-it-yourself-Release, vertrieben via Mailorder sowie über die Rough-Trade-Shops in London. Während der Alternative Rock in dieser Zeit von der Industrie gekapert wird und selbst die Butthole Surfers einen Major-Deal erhalten, entziehen sich Stereolab bewusst dem Mechanismus. Zwei weitere EPs erscheinen, 1992 folgt das Debütalbum PENG!, veröffentlicht auf Too Pure, Anfang der 90er-Jahre begehrte Heimat für Musiker, die Rock, Pop und Electronica auf besondere Weise zusammendenken. Acts wie Laika, Moonshake, Seefeel, Pram und ab 1994 Mouse On Mars sind Labelmates.

Als würden die Easy-Listening-Götter The Free Design und Françoise Hardy eine Session mit Neu! und The Velvet Underground abhalten

Stereolab erweitert sich, so stößt Sängerin Mary Hansen hinzu, eine Australierin, die auf dem 93er-Mini-Album THE GROOP PLAYED „SPACE AGE BATCHELOR PAD MUSIC“ erstmals als zweite Sängerin und Keyboarderin dabei ist. Sie und Sadier entwickeln den Sound der Band weiter, es entstehen diese typischen Stereolab-Klangteppiche, bestehend aus scheinbar in der Luft schwebenden Stimmen, getragen von Moog-Keyboards, angetrieben vom häufig minimalistischen Beat. Es ist, als würden die Easy-Listening-Götter The Free Design und Françoise Hardy eine Session mit Neu! und The Velvet Underground abhalten, um über Politik und den Weltraum singen.

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Tim Ganes Schrammelgitarre zieht sich immer mal wieder zurück. Er selbst sieht das mit größtem Wohlwollen: Stereolab stehen auch für Postrock, also für die Idee, bisherige Hierarchien aufzulösen. Das zweite Album TRANSIENT RANDOMNOISE BURSTS WITH ANNOUNCEMENTS wird zum Triumph, das mehr als 18 Minuten lange „Jenny Ondioline“ zum prägenden Stück der frühen Stereolab: Minimalismus nach Rezept ist streng. Wenn Stereolab ihn spielen, ist er sinnlich – und weiterhin politisch!

Das All als utopischer Ort

Zwar spielt die Band offensichtlich Weltraummusik, doch das All dient in vielerlei Hinsicht als utopischer Ort: „I don’t care if the fascists have to win. I don’t care democracy’s being sucked. I don’t care socialism’s collapsing“, singt Sadier in „Jenny Ondioline“, benannt nach einem der ersten elektronischen Keyboards, erfunden vom französischen Klangforscher Georges Jenny im Jahr 1941. Dann wiederholen die beiden Sängerinnen immer wieder das Mantra: „We’ve got to keep the lift, hope, and struggle.“ Musik vom Kampfstern Politica! Geprägt vom Marxismus, der sagt, die Revolution funktioniere nicht ohne einen Kampf.

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Stereolab veröffentlichen in den USA mittlerweile mithilfe des Majors Elektra. Man sollte skeptisch sein, wenn Bands berichten, sie würden trotz eines Vertrags komplett kreative Freiheit genießen. Bei Stereolab darf man das glauben. Die Bands steht von Beginn an außerhalb der Systeme. Als die Alternative Nation Kasse macht, tüten Stereolab ihre Platten weiterhin selbst ein, das grandiose „French Disko“, heute einer der bekanntesten Stereolab-Tracks, erscheint 1993 als strikt limitierte Single, bis zu 100 Euro ist die 7-Inch heute wert.

„Don’t worry, be happy, things will get better naturally“

Die Band interessiert sich auch nicht für die englische Nationalversammlung namens Britpop – zumal sich die Gruppe immer als mindestens europäisch betrachtet, wenn nicht sogar als komplett international. „Ping Pong“, die erste Single des 94er-Albums MARS AUDIAC QUINTET, ist ein perfekter Popsong, drei Minuten lang, keine Sekunde zu viel oder zu wenig. Auf textlicher Ebene ist das Stück eine tiefgründige Abhandlung über die Rolle des Kriegs im Kapitalismus. Auf ökonomische Abstürze folge ein neuer Krieg, der die Wirtschaft antreibt, nach einer Phase der Erholung beginne das Spiel dann wieder von vorn: „Ping Pong“. Nur dass die Abstürze immer größer würden – und die Kriege auch.

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Wodurch das steige, was sich in den 90er-Jahren durch den üblen Begriff „Kollateralschaden“ definierte: Opfer als „Begleiterscheinungen“ eines Krieges, der einem höheren Zweck diene – „It’s only their lives and the lives of their next of kin that they are losing“. Im Outro bleibt Sadier noch bittere Ironie: „Don’t worry, be happy, things will get better naturally.“ Der nächste Krieg. Der nächste Deal. Ping-Pong. Drei Minuten Pop-Exzellenz und Politikseminar in einem.

Eine unschlagbare Albumtrilogie

Bis auf Platz 16 steigt MARS AUDIAC QUINTET in den britischen Albumcharts, bis heute die Höchstplatzierung der Band. Das Album ist der erste Teil einer unschlagbaren Albumtrilogie: 1996 folgt EMPEROR TOMATO KETCHUP, die Single „Cybele’s Reverie“ löst sich im Mittelteil meisterlich auf, die Band beweist, wie gut sie sich aufs Arrangieren kunstvoller Popmusik versteht. Als Produzent fungiert John McEntire (u.a. Tortoise, The Sea And Cake), Postrock-Größe aus Chicago, er sagt später, was ihn an Tim Gane begeistert habe, sei dessen „enzyklopädisches Wissen über alle Dinge, und das ist nicht im Mindesten eine Übertreibung“. Ein Jahr später folgt DOTS AND LOOPS, der Titel legt nahe, dass sich die Band weiter in Richtung Electronica verschiebt, neben McEntire wirkt Andi Toma von Mouse On Mars als Co-Produzent.

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In ihrer künstlerischen Vision und Haltung wirken Stereolab Ende der 90er-Jahre unglaublich souverän; später erarbeiten sich Radiohead eine solche Haltung, heute besitzt sie Justin Vernon mit Bon Iver. Doch die Band entschwebt dem irdischen Drama eben nicht ganz. Die Sache wird kompliziert, als Sadier und Gane junge Eltern werden. Der gemeinsame Sohn Alex wird 1998 geboren, es beginnen die Überlegungen, wie das zusammen gehen kann, ein Paar zu sein, ein Baby zu haben, in der Band Stereolab zu spielen – einer Gruppe, die sich auch weiterhin aus freien Stücken im Underground bewegt, „weil ich weiß“, wie Sadier sagt, „dass es im Overground richtig anstrengend wird und man den Spaß an dem verliert, was man liebt“.

Über die Liebe und das Licht, über Dankbarkeit und, natürlich, die Sterne

Anfang Dezember 2002 ist Mary Hansen mit dem Fahrrad in London unterwegs, hat einen Unfall mit einem LKW – und stirbt. Ohne Hansen fehlt der Gruppe ein entscheidendes Element, die Dopplung der Stimmen ist einer der originären Effekte bei Stereolab, sie gibt der Musik den Lounge-Charakter, sorgt für kleine Verschiebungen in den Songstrukturen, fügt den Tracks ungewöhnliche Wendungen dazu, zum Beispiel, wenn eine der beiden Sängerinnen ihre Stimme rhythmisch einsetzt, wie ein Percussion-Instrument.

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Schon 2004 veröffentlicht die Band ein Album ohne Mary Hansen, MARGERINE ECLIPSE, es ist zudem die erste Platte nach der Trennung von Sadier und Gane. Stereolab klingen hier unpolitisch, unironisch. Es ist ein Album über die Liebe und das Licht, über Dankbarkeit und, natürlich, die Sterne. An vielen Stellen ist es eine Hommage an Mary Hansen, am deutlichsten am Ende von „Feel And Triple“, wenn Lætitia Sadier singt: „You will sing forever like an angel who flew away.“

Ein vorläufiger Schlusspunkt

CHEMICAL CORDS wird 2008 zum vorläufigen Schlusspunkt, es ist das neunte Album. Noch eine Tour, dann tritt die Band in eine Pausenphase ein, wie es offiziell heißt. Über die Hauptgründe streiten sich Sadier und Gane bis heute. Es habe keine Freude mehr gemacht, Teil dieser Band zu sein: zu viel Alkohol, zu viele miese Vibes, sagte Sadier kürzlich in der „New York Times“. Er hält dagegen, das Erreichen der kreativen Sackgasse wäre der ausschlaggebende Grund gewesen: „Ich hatte das Gefühl, das nächste Album, das wir aufgenommen hätten, wäre schlecht geworden.“

The Laetitia Sadier Source Ensemble :: Finding Me, Finding You

Seit Frühjahr 2019 sind Stereolab wieder auf Tour. Sadier und Gane haben auch ohne die Band genug zu tun, sie ist Solo unterwegs, er betreibt das hochgelobte Krautrock- und Avant-Rock-Projekt Cavern Of Anti-Matter. Den Impuls, wieder gemeinsam live zu spielen, gibt das Label Warp, es hat sich die Lizenzen von Elektra besorgt und veröffentlicht die alten Platten neu, was sinnvoll ist, denn die Vinyl-Kopien der Original-LPs sind mittlerweile sündhaft teuer, da kann eine neue Auflage nicht schaden.

„Die Welt geht auch weiterhin zuverlässig den Bach runter“

Wie es danach weitergeht? Tim Gane sagt, es gebe eine Menge ungenutzter Musik. Er wisse aber nicht, ob sich daraus etwas machen ließe, das am Ende tatsächlich nach Stereolab klingen würde. Lætitia Sadier analysiert, dass die Welt auch nach Stereolabs Texten über das „Ping Pong“ von Krise und Krieg weiterhin zuverlässig den Bach runtergeht. „Daher singe ich meine Texte weiterhin aus vollem Herzen“, sagt sie, „schließlich hat sich nichts in Positive gewendet.“ Nur aufzugeben, das komme nicht infrage. „We’ve got to keep the lift, hope, and struggle.“ Diese Zeile aus „Jenny Ondioline“ bleibt das Manifest dieser Band.

Dieser Artikel erschien erstmals im ME 11/19.