Interview

Sparks im Interview: „Wir verknappen die Welt in Slogans“

Ron und Russell Mael im ME-Gespräch über Freiheiten, Lieblingsthemen, Überraschungen und Hochstaplerei.


Das seltsamste Duo des Pop: Seit 57 Jahren spielen Ron und Russell Mael gemeinsam in einer Band. Seit 1972 nennen sie sich Sparks, 1974 wurde aus der Gruppe ein Duo. Ron, Hauptsongwriter und Keyboarder, wird in diesem Sommer 80 Jahre alt. Russell, der Sänger, ist 76. Man könnte denken, Sparks seien in der Routinephase ihrer Karriere angekommen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Kinofilm! Doku! Ausverkaufte Shows! Und immer wieder neue Aufnahmen. MAD! ist das 29. Album der Diskografie. Es ist zugleich wütend, verrückt und romantisch. Zumindest dann, wenn man Stadtautobahnen mag und ein Faible fürs Plaudern vorm Einschlafen hat.

Vor dem Zoom-Interview mit den Mael-Brüdern stellt man sich die Frage, wie sich die beiden wohl verstehen werden. Fällt der eine dem anderen ins Wort? Ist der smarte Russell der Wortführer – oder eher Ron, der Komponisten-Nerd mit dem markanten Bärtchen? Er betritt den Call etwas früher, hat sich vor einem Regal platziert, auf dem ein Dutzend Air Jordan Sneaker aufgestellt sind, Ron sammelt die Dinger. Kurz danach schaltet sich Russell dazu, zeigt ein L.A.-Lächeln, wirkt keinesfalls wie 76. Was sich im Gespräch zeigt: Die beiden reden geordnet, beinahe bedächtig. Die Redeanteile: ausgeglichen.

Ron, Russell, ich war überrascht, dass es unter den vorherigen 28 Alben von Sparks noch keines gab, das den Titel MAD! trägt. Daher ist der ja sehr naheliegend.

RON MAEL: Dieses Mal musste es sein. Weil der Begriff das Gesamtbild widerspiegelt, das sich ergibt, wenn man nicht taub und blind durch die Welt läuft. Man kann ja der Meinung sein, die Welt sei schon immer schlecht gewesen. Jetzt ist sie aber auf verrückte Weise schlecht. Was zur Folge hat, dass die Leute ebenfalls MAD! sind – im Sinne von hochgradig verärgert.

RUSSELL: Ich glaube auch, dass aktuell sehr viele Leute ziemlich wütend sind, mit Blick auf die Dinge, die in der Welt passieren. Es ist naheliegend, auf diese Wut mit einer Musik zu reagieren, die ebenfalls wütend klingt. Oder sehr nachdenklich und traurig. Das ist ein Weg. Wir wählen einen anderen, indem wir versuchen, das Verrückte zu betonen. Und ich finde, dass dieser Ansatz genauso gut dabei helfen kann, die Wut zu kanalisieren. Verbunden mit ein wenig Spaß.

RON: Unser Versuch, mit unseren Albentiteln auf das zu reagieren, was draußen vor sich geht, ist ein Ansatz, den wir scho immer gewählt haben. Wir haben eine gewisse Leidenschaft dafür, den Zustand der Welt in Slogans zu verknappen.

Mit welchem Albumtitel aus der Vergangenheit ist das besonders gut gelungen? Ich nenne gleich mal meinen Favoriten: ANGST IN MY PANTS von 1982.

RUSSELL: Ja, der gefällt mir auch sehr gut. Ist auch aktueller denn je. Wenn man sich die Stimmung im Weißen Haus vorstellt. Das sind eh die besten Titel: die zur Veröffentlichung super sind – viele Jahre nachher aber auch noch.

RON: Der Song „Angst in My Pants“ war damals ein absoluter Schnellschuss. Wir nahmen in München mit Giorgio Moroder eine Platte auf, brauchten über Nacht aber noch einen Song, damit das Album nicht zu kurz wird. Wir flachsten mit ein paar deutschen Begriffen herum, bis sich irgendwann „Angst In My Pants“ festsetzte. Aus der Idee wurde ein Song, am nächsten Tag haben wir ihn aufgenommen, später hieß dann auch das Album so.

RUSSELL: Ich mag die Plattentitel am liebsten, die dadurch noch gewinnen, dass man einen Extra-Bezug herstellen kann. KIMONO MY HOUSE zum Beispiel ist sowieso ein cooler Titel. Wenn man dann zusätzlich noch den Song „Come On-A My House“ von Rosemary Clooney kennt, dann wird’s noch eine Spur cooler.

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Auch der erste Song auf MAD! könnte ein Leitmotivlied für eure gesamte Karriere sein: „Do It My Own Way“. Ihr erwähnt im Text Howard Hughes, was war das für ein Typ?

RON: Er war, im Guten wie im Schlechten, ein komplett unabhängiger Mensch: Unternehmenserbe, Filmschaffender, Pilot, Exzentriker, Milliardär. Später ein Paranoiker, der wohl aus Angst vor Bakterien jahrelang sein Hotelzimmer nicht mehr verließ und trotzdem ständig krank war. Der rote Faden seines Lebens: Es gab keinen. Er war komplett bizarr in seinen Handlungen.

RUSSELL: Ich mag an dieser Geschichte, dass bis heute niemand weiß, ob Howard Hughes ein Genie war, verrückt oder einfach nur verdammt clever. Man ist ihm nie auf die Schliche gekommen, er bleibt eine mysteriöse Figur.

So wir ihr es seid. In eurem Text trägt Hughes Air Jordan Twos, das sind die Sneaker, die du sammelst, Ron.

RON: Ja, aber wir sind auf eine etwas andere Art mysteriöse Figuren.

RUSSELL: Mysteriös, aber gesund!

Der größte Feind eines jeden Mysteriums: ein Dokumentarfilm. Wie „The Sparks Brothers“ von Edgar Wright aus dem Jahr 2021.

RUSSELL: Das stimmt, und als Edgar Wright mit der Idee auf uns zukam, eine Doku über uns zu drehen, waren wir dementsprechend misstrauisch. Wir wollten auf keinen Fall einen Film, der uns festlegt. Oder einen Film, in dem wir selbst definieren, wie wir festgelegt werden möchten. Wir wollen das nicht kontrollieren. Wir sind stolz auf unsere Alben und Live-Shows. Jeder im Publikum erzeugt auf dieser Grundlage jeweils ein eigens Bild von uns. Und dieses Bild ist immer richtig. Keine Wahrnehmung von uns ist verkehrt. Wir haben bei der Doku nur deshalb zugesagt, weil uns Edgar Wright versprach: „Am Ende werden noch genügend Geheimnisse übrig bleiben.“

RON: Es ist aber auch nicht so, dass es bei uns eine verschlossene Tür gibt, hinter der dunkle Geheimnisse lauern. Wichtig ist uns, den Umstand aufrechtzuerhalten, dass unsere Musik und Texte, dass unser Image für jeden, der uns erlebt, anders wirken kann.

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Überrascht ihr zwei euch denn nach mehr als 50 Bandjahren noch gegenseitig?

RUSSELL: Absolut. Es gibt auf MAD! einen Song namens „I-405 Rules“. Die I-405 ist ein Interstate Highway, der die westlichen Gebiete von Los Angeles umfährt. Als Ron mit diesem Song um die Ecke kam, der eine Stadtautobahn verherrlicht, war ich sehr überrascht. Aber ich mochte ihn sofort. Er steht für die Art, wie wir Lokalpatriotismus verstehen. Andere rennen mit Taschen herum, auf denen „Ich ♥ L.A.“ steht. Wir haben einen Song, der die Stadtautobahn mit majestätischen Flüssen vergleicht, die durch andere Städte fließen, mit der Themse in London oder dem Rhein in Köln. Bei uns in L.A. gibt es keinen solchen Strom. Wir haben aber den I-405. Als Kinder der Stadt sind wir aber auf seltsame Weise stolz darauf. Zum Beispiel, weil dieser verstopfte Betonstreifen sehr lebendig sein kann, voller Menschen, die sich zuwinken und eine Schicksalsgemeinschaft von Menschen bilden, die zusammen im Stau der Rush Hour stecken. Das ist die Art von Romantik, die wir mögen.

Das Profane wird auch im Song „A Little Bit Of Light Banter“ gefeiert, der vom Late-Night-Smalltalk kurz vom Schlafengehen handelt.

RUSSELL: Auch dieses Stück bietet eine Perspektive, mit der Ron mich überrascht hat. Ein Popsong über die paar absolut nicht lebenswichtigen Dinge, über die man noch kurz plaudert, bevor man das Licht ausknipst und bald acht Stunden lang weg ist. Ich habe das Gefühl, dass wir solche Momente in dieser Zeit, in der wir leben, mehr denn je brauchen.

Was sind eure Lieblingsthemen fürs leichte Geplaudere, bevor das Licht ausgeht?

RUSSELL: Der Milchschaum auf dem Cappuccino heute, der war nicht so gut, wie er normalerweise ist, oder? Er war eine Spur dünner als sonst.

RON: Gute Nacht, Darling.

Ron, ist es möglich, über alles, was passieren kann, einen Song zu schreiben?

RON: Ja, ich denke, man kann über alles schreiben. Mein Trick ist, zu versuchen, das Spezielle in gewisser Weise universell zu machen. Nicht unbedingt im Sinne einer Metapher. Viele Leute suchen in Sparks-Songs nach dem Schlüssel für eine Symbolik, aber häufig gibt es den nicht. Mein Weg ist eher, etwas sehr Spezifisches zu nehmen – wie diese Stadtautobahn von L.A. –, um es dann so in einen Song einzufügen, dass eine größere Bedeutung entsteht. In diesem Fall eine Liebeserklärung an unsere Heimatstadt.

Russell, ist es dir möglich, jeden Song, den Ron schreibt, zu singen?

RUSSELL: Ja! Es ist ja zunächst einmal so, dass man in allem, was man häufig tut, immer besser wird. Erfahrung zahlt sich aus. Dann aber kommt das Alter ins Spiel, und ich kenne Menschen meiner Generation, denen es irgendwann schwerfiel, stimmlich alle Register zu erreichen, die man in jungen Jahren erreicht hat. Glücklicherweise ist das bei mir nicht der Fall. Ich habe Glück. Es gibt bei unseren Live-Shows keinen Song, den wir auf eine tiefere Tonart heruntersetzen müssen. Ich singe sie alle noch wie im Original.

Was ist dein Trick, die Stimme in Form zu halten?

RUSSELL: Ich verzichte darauf, meine Stimme zu missbrauchen. Unser großer Antrieb ist, als Künstler, die wir sind, nicht in der Qualität nachzulassen. Das motiviert.

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Das Irre an eurer Karriere ist, dass ihr jahrelang immer in anderen Ländern Erfolg hattet. In frühen Jahren wart ihr Stars in Großbritannien. In den späten Siebzigern liebten euch die Festlandeuropäer, bevor es in den frühen Achtzigern endlich auch in eurer amerikanischen Heimat in die Charts ging. Als dann in den Neunzigern kurz die Gefahr bestand, dass nichts mehr geht, hattet ihr mit „When Do I Get To Sing ‚My Way‘“ einen riesigen Dance- und Radio-Hit in Deutschland. Ich nehme an, dahinter steckte kein Masterplan?

RON: Nein. Wohl eher die Akzeptanz, dass man als eine Band, die immer nur das macht, was sie will, niemals überall gleichzeitig erfolgreich sein kann.

RUSSELL: Was mir daran gefällt, ist die Tatsache, dass dieser Werdegang beweist, dass Popmusik längst nicht so gleichgeschaltet ist, wie einige das gerne behaupten.

Was aber auch interessant ist: Seit einigen Jahren mag man euch überall.

RON: Das liegt daran, dass ein paar gute Entwicklungen zusammenkamen. Wir liefern weiter Qualität ab und wiederholen uns nicht, das ist die Grundlage. Dann ist es uns endlich gelungen, unseren Film „Annette“ in die Kinos zu bringen. Kurz danach lief dann die Dokumentation von Edgar Wright. Auf diese Weise ist es uns gelungen, neue Generationen von Sparks-Fans zu erreichen. Das ist ein Geschenk, mit dem wir sehr verantwortungsvoll umgehen …

RUSSELL: … aber nicht, indem wir versuchen, ab jetzt allen zu gefallen. Sondern, im Gegenteil, indem uns selbst treu zu bleiben und immer wieder zu überraschen.

Man darf sich Sparks als komplett freies Duo vorstellen, oder?

RUSSELL: Ja.

Warum nutzen so wenig andere Pop-Acts diese Freiheit?

RUSSELL: Gute Frage. Ich denke, wenn eine Band eine gewisse Fangemeinde für sich gewonnen hat, glaubt sie, dass die Leute deshalb zu Fans geworden sind, weil diese Band ein bestimmtes Gefühl erzeugt. Und nun hat die Band Angst, die Leute sofort wieder zu verlieren, sobald sie von dem Sound abweicht, der sie bekannt gemacht hat. Wir hatten das große Glück, dass wir uns in einer Zeit gefunden haben, in der die Fans nichts anderes von uns erwartet haben als diesen Zickzack-Kurs. Wir sind im Kern eine Glamrock-Band der frühen Siebziger. Und von David Bowie hatte ja auch niemand erwartet, er möge sich bitte wiederholen.

Es gibt auf MAD! den Song „Running Up A Tab At The Hotel For The Fab“ über einen Hochstapler oder eine Hochstaplerin. Eine Person, die jemand anderes in ein viel zu teures Hotel mitnimmt und am Ende verschwindet, ohne die Rechnung zu begleichen. Kommt ihr euch manchmal auch wie Hochstapler vor? Wie zwei Aliens, die sich in dieser Pop-Branche verirrt haben?

RON: Ja und nein. Als wir Anfang der Siebzigerjahre unser erstes Album aufgenommen haben, damals noch unter dem Bandnamen Halfnelson, waren wir als Pop-Fans sehr stolz darauf, mit Todd Rundgren arbeiten zu dürfen, der diese Platte produziert hat. Er war ein Held von uns. Aber wir hatten wirklich nie im Sinn, mit dieser Musik eine Geschichte zu starten, die auch 29 Alben später noch nicht zu Ende ist. Wir sind damals einfach auf diesen Pop-Zug aufgesprungen, und auf diesem fahren wir seit 53 Jahren durch die Gegend.

RUSSELL: Niemand kann von uns verlangen, dass wir freiwillig aussteigen oder bei voller Fahrt herausspringen. Klar, es mag Leute geben, die empfinden, dass zwei Menschen in unserem Alter auf diesem Zug nichts mehr zu suchen haben. Aber das ist deren Problem, nicht unseres. Wir fühlen uns wohl auf dieser Fahrt, weil wir in dem, was wir musikalisch tun, absolut ehrlich sind. Wir spielen niemandem etwas vor. Daher sind wir eigentlich keine Hochstapler. Und wenn, dann aus den richtigen Gründen. Dass wir uns als Sparks aktuell in einer besonderen Position befinden, ist uns bewusst. Die Hallen, in denen wir spielen, werden immer größer. Wir werden für Säle gebucht, in denen wir vorher nie spielen durften, in der Hollywood Bowl in unserer Heimat Los Angeles, im Sydney Opera House in Australien, an gleich zwei Abenden in der Royal Albert Hall in London. Ja, es ist einzigartig, dass das nach mehr als 50 Jahren gelingt. Aber vor allem ist es: fantastisch.

THIS INFO AIN’T BIG ENOUGH FOR THE BOTH OF US

Ron (Jahrgang 1945) und Russell (1948) Mael wuchsen in Los Angeles in Pacific Palisades auf. Der Vater verdiente sein Geld als Cartoonist und Grafiker bei einer Tageszeitung. Als Jugendliche erlebten die Mael-Brüder die goldenen Jahre der L.A.-Club-Szene, als entlang des Sunset Strips täglich große Bands spielten. Ihre erste eigene Gruppe gründeten sie 1967, Inspiration für den Namen Halfnelson war ein Griff beim Catchen. Ein erstes Album erschien 1971, seit 1972 sind sie als Sparks unterwegs. Als Glamrockband landeten sie Hits wie „This Town Ain’t Big Enough For Both Of Us“ oder „Amateur Hour“, zusammen mit Giorgio Moroder nahmen sie 1979 den Disco-Electro-Hit „The Number One Song In Heaven“ auf, Deutschland eroberten sie 1994 mit „When Do I Get to Sing ‚My Way‘“, dem cleversten Disco-Fox-Hit der Geschichte. 2015 erschien zusammen mit Franz Ferdinand das Kooperationsalbum FFS. 2021 kam der lang geplante Film „Annette“ in die Kinos, für den Sparks Drehbuch und Musik schrieben. Kurz darauf folgte die Doku „The Sparks Brothers“. Die neue Platte MAD! ist – nach Mael-Zählweise – das 29. Album.