Soundtrack zum Untergang – 12 (heimliche) Hits der ersten Hälfte 2024
Ein halbes Jahr 2024 – na, wie gefällt es euch bisher?
Halbzeit 2024 … in seiner aktuellen Kolumne zieht Linus Volkmann Bilanz. Zwölf Tipps und heimliche Hits.
Ein halbes Jahr 2024 – na, wie gefällt es euch bisher?
Hey, das war bloß eine Frage. Bitte hört doch auf zu weinen und mit dem Kopf gegen das Display zu schlagen!
Aber ich fühle diese Reaktion natürlich. Einziger Trost vielleicht ist, dass zumindest schon klar sein durfte, dass 2024 erneut ein schwieriges Jahr würde. Man wird also wenigstens nicht überrascht von den globalen Untergangstendenzen und kann sich von der scheidenden Demokratie bei ihrer Ehrenrunde nochmal in Ruhe verabschieden.
Dass die Uhren (beziehungsweise Zeitbomben) weltweit auf jeden Fall schneller ticken, das nehme ich heute zum Anlass, bereits ein wenig zu resümieren. Nicht mehr nur in Jahresrhythmen denken! Lieber unmittelbarer all das Schöne teilen, was ja auch noch da ist. Hier kommt meine subjektive Hit-Ausbeute der ersten sechs Monate. Ich spare mir dabei die ganz großen Konsensnummern für die echten Jahrescharts, oder so. Denn Charli xcx oder Billie Eilish, die habt ihr sicher selbst auf dem Schirm, sofern das für euch was ist. Ich will im Gegenzug jetzt zwar nicht mit Musik aus den allerdunkelsten Nischen flexen, aber dennoch scheint mir geboten, dass eine solche Liste auch etwas zum Entdecken bietet.
Viel Spaß beim Nachkochen!
12 Songs aus 2024, die du kennen solltest
Cat Burns „Alone“
Gleich werde ich hier ganz viel deutschsprachige Musik ausspucken – wie ein Merkur-Spielautomat, der statt drei Sonnen oder Kirschen plötzlich drei Kartoffeln in Reihe anzeigt. Aber der Horizont in Pop reicht natürlich viel weiter. Stellvertretend weise ich auf dieses zauberhafte Stück hin. Autotune-Blues zwischen Kirmes und Melancholie. Wie ihre Stimme zu diesem großartigen Refrain anhebt und die Spannung der Strophe in pure Erlösung überführt. Wenn das kein Hit auch für die Jahresbestenlisten ist, vergrabt mich bitte hinten im Garten.
Gwen Dolyn „Ertrinken“
Im hiesigen Indie-Pop-Betrieb war es letztes Jahr dann doch sehr schön, dass die Band Tränen zu einem derart heißgeliebten Must-Have hochgeschaukelt wurden. Gwen Dolyn, die den Act zusammen mit Steffen Israel (Kraftklub) beseelt, veröffentlicht dieses Jahr nun auch wieder solo Musik. Düster, sehnsuchtsvoll, hymnisch. Das omnipräsente Thema des (persönlichen) Untergangs ist auch hier nie fern: „Und weil die Welt kaputt geht / will ich dich einmal halten“ heißt es ihrem spektakulären Song „Ertrinken“.
The Pill „Salaryman”
Wer schnell zum Zug muss oder wessen Aufmerksamkeitsspanne auf die Länge von drei TikTok-Clips zusammengeschnurrt ist: Hier ist eure passende Band. So kompakt wie The Pill erzählt einem sonst niemand die komplette Punkhistorie nach. Die Stücke sind oft unter zwei Minuten, „Salaryman“ zeichnet sich mit seinen 2:16 quasi schon als Longplay aus. Die Band klingt neben rotzig übrigens dermaßen international, dass es schwer fällt, sich auf ihre Herkunft einzulassen. The Pill stammen aus Frankfurt am Main, wie kann das sein? Egal, wird schon seine Gründe haben. Wer Amyl And The Sniffers schätzt und Freude daran hat, wenn auf dem Rummelplatz alle Dosen gleichzeitig abgeräumt werden, ist mit diesem Trip perfekt bedient.
The Pill „Bale Of Hay“
Auch stark, selber Name allerdings aus London stammend und als Duo unterwegs: Diese Ausprägung hier von The Pill. Wer bei den beiden Acts durcheinanderkommt, grämt euch nicht. Mir ist es selbst schon passiert. Okay, ich muss zugeben, mich hat es sehr gegrämt. Aber jetzt habe ich es drauf. Join me!
HC Baxxter „Cis-Boys Don’t Cry”
„Cis-Boys Don’t Cry“ hatte ich sehr spät nachts vorgespielt bekommen, war sofort wieder nüchtern (naja) und schockverliebt (auf jeden Fall). Zum Glück gab es dieses geisterhafte Stück am nächsten Morgen immer noch. Denn irgendwie scheint mir das wie ein Song, den man eigentlich nur träumen kann: Offensiv wird über Männlichkeit und das eigene Verhältnis dazu gesprochen – dazu laufen bouncende Boom-Beats, als wäre wieder VIVA und Eurodance. What’s not to love!
Lasso „Der letzte Ritt nach Santa Fe“
Offenlegung: An diesem 90er-Jahre Mythos vom Musikjournalisten als Popstar habe ich selbst schon gekratzt. Doch mit eigener Band kam ich nicht über die ersten Hürden (Ambition, Versiertheit, Musikalität) hinaus, das ist in meinem Fall nun wirklich nicht schlimm. Dennoch bin ich umso faszinierter von dem Top-Journo Wolfgang Zechner (wohnhaft Wien). Der hat sich mit dem Künstlernamen Lasso einfach mal als deutschsprachiger Country-Songwriter neu zusammengesetzt. Das Ergebnis ist eine Mischung aus Hank Williams, „El Cattivo“ von Die Ärzte und den Fehlfarben zu Pferde. Gebt euch das!
H.i.T. „Simulation“
Als ich diese Band zum ersten Mal hörte, überkamen mich wildeste Hype-Visionen. Ich fürchtete sofort, mit meiner Begeisterung als einer letzten noch hinterherzuhumpeln: „Ach, sieh mal an, jetzt ist auch bei Linus Volkmann der Groschen gefallen, guten Morgen!“ Doch jenseits von ihrer Heimatstadt Bremen blieb der Buzz bis jetzt noch aus. Warum bloß? An den Songs und dem exzessiv lässigen Style kann es schon mal nicht liegen. Zum Beweis hier ihr Update zu dem Wavepunkklassiker „Computerstaat“ (Abwärts), bei H.i.T. heißt er „Simulation“. Wer das Original kennt, hat‘s gut, aber auch ohne Vorwissen ein Knaller.
Joachim Franz Büchner „Force Of Nature“
25 Jahre nach dem (vermeintlichen) Schlageralbum OLD NOBODY von Blumfeld kann man sich noch mal so fühlen wie bei „Tausend Tränen tief“. Joachim Franz Büchner (Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs, Der Bürgermeister der Nacht) öffnet Post-Hamburger-Schule-Gitarrenmusik dem Feeling – und zwar ohne doppelten Boden oder Ironie. Dieser Umstand entfaltet gerade beim mehrmaligen Hören eine unglaubliche Euphorie und Wahrhaftigkeit.
Ferdinand Führer & Roland Van Oystern „Morphium am Steuer“ (mit Stefanie Schrank und Björn Sonnenberg)
Seit über einer Epoche immer noch nicht an der Spitze der Popkultur und Punkszene, wo sie offenkundig hingehören. Unbeirrt zelebrieren Ferdinand Führer und Roland van Oystern aus Süddeutschland ihr ganz eigenes Nerdtainment. Einerseits ist das sehr pointiert, andererseits sieht sich ihr Output immer auch durchzogen von spannungsreicher Uneindeutigkeit – wenn sie beispielsweise in einem Song annoncieren „Heile uns, Marcus Wiebusch“. Wie meinen die das bloß? Auch in dem aktuellen Stück glitzert wieder die ewige Irritation. Subtilität ist ein Geschenk, auch wenn Social Media einen immer wieder anderes glauben machen will. Hier jedenfalls fasziniert vor allem auch das fantastische Video. Nach „Morphium am Steuer“ spucke ich auf das Gesamtwerk von Clip-Ikone Jonas Akerlund („Smack My Bitch Up“ Prodigy / „Paparazzi“ Lady Gaga). Das hier einfach schlägt alles. Objektiv gesprochen.
Im Taxi Rauchen „Nachbarin fällt im Bus“
Okay, auf YouTube hat das hier nicht mal dreistellige Zugriffszahlen… Na, wenn das nicht euren Entdeckungseifer anfacht, dann weiß ich aber auch nicht! Im Taxi Rauchen ist ein verschmustes Duo, dass zusammen mit noch jemand anderem in einer Poly-Beziehung lebt. Das weiß ich, weil ich so sehr Fan von Im Taxi Rauchen bin, dass ich sie schon mal für meinen Podcast über genau dieses Beziehungsmodell interviewte. Aber hier geht’s ja jetzt um die Musik – die ist nicht minder aufgewühlt und emotional. „Nachbarin fällt im Bus“ mag bereits in sich einen Hit darstellen, ist darüber hinaus allerdings auch noch ein interessant übergeschnapptes Tocotronic-Referenz-Gulasch. Der Titel verweist bereits auf deren „Nach Bahrenfeld im Bus“, aber man kann auch „Es ist egal, aber“ oder „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“ raushören. Meta-Indie-Pop mit unfassbar viel Charme.
Mina Richman „Song Of Consent“
Die explizite Einwilligung beider Seiten (Consent) würde dem Anbahnen und Ausagieren erotischer Handlungen allen Reiz nehmen. Wer einen Satz wie den solche heute postuliert, könnte in seiner Zeitmaschine glatt auch in die Epoche zurückeiern, in der AIDS aufkam und dort jammern: Sex mit Kondom? Voll der Lustkiller!
Die Deutsch-Iranerin Mina Richman jedenfalls hat all dem Schönen, der hinter dem Willen nach Einvernehmlichkeit steht, einen wunderschönen Song geschenkt.
Antilopen Gang „Sympathie für meine Hater“
Das schillernde Trio Panzer, Danger und Koljah steckt mittlerweile in den Sphären von „Ereignis-Bands“. Das bedeutet einerseits, sie sind in den oberen Rängen der hiesigen alternativen Popszenerie angelangt, aber andererseits muss jede Veröffentlichung nun auch als Event inszeniert werden. Kraftklub, K.I.Z., Beatsteaks, Deichkind und ähnliche kennen diese grelle Bürde. Wie man ihr immer wieder aufs Neue gerecht werden will? Schwierig. Nach dem Anti-Muttertag-Song machen die Antilopen jetzt erst mal wieder etwas mellow. Man kann doch nicht zu jedem Date mit dem Marketing-Monstertruck fahren. „Sympathie für meine Hater“ ist einfach ein tolles Stück. Autotune drüber und textlich dann noch diese originelle Brechung der Themen Selbstkritik und Hass im Netz.
Zu dritt können sie ihre jeweiligen Superkräfte immer noch mal ganz besonders bündeln.
Sorry 3000 „Hinter’m Kreisel“
Das zweite Album der Band aus Halle an der Saale fächert auf. Wenn ich das in einem Interview, das ich las, richtig verstanden habe, liegt es daran, dass man diesmal mehr additiv gearbeitet habe. Also der eine bringt das ein, die andere das – und zum Schluss liegt das Album da wie ein Jackenhaufen auf dem Bett einer WG-Party. Why not! Passend zum roten Faden dieser Liste hier (#Untergang) könnte ich am besten auf „Es ist alles nicht so schlimm“ verweisen – ein Song, der ziemliche Jeans Team Vibes mitbringt. Allerdings höre ich noch lieber die schluffig verregnete Gentrification-Ballade „Hinter’m Kreisel“.
Okay, das war’s mit der ersten Hälfte 2024. Wir sprechen uns im Dezember wieder. Davor noch Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Nicht zu vergessen die Präsidentschaftswahl in den USA. What can possibly go wrong?
Alles Gute!