Sleepless In Seattle


Die Seattle-Rocker zünden die zweite Stufe und entpuppen sich ohne den Hype um die Heimat als wahre Helden. Nur Stars wollen sie keine werden. Sind Pearl Jam zu gut für diese Welt?

Hat hier jemand Seattle gesagt? Wir erinnern uns: Seattle, mittlere Großstadt im amerikanischen Nordwesten, kreative Keimzelle einer bis heute eher schwammig definierten Musikrichtung namens Grunge. Jetzt schon Krach von vorgestern — wer im Jahr eins nach dem Hype um Nirvana, Pearl Jam und Flanellhemden musikalische Glaubwürdigkeit zeigen will. gibt als Heimatsort in der Band-Bio wahrscheinlich lieber noch Death Valley an als Seattle. Der schnelle Trend hat die Stadt zumindest rnedientechnisch schon wieder vom Erdboden verschluckt.

So als wäre nichts gewesen, räkelt sich die unspektakuläre Nordwestmetropole an einem frühen Sommertag am Ufer des Pugetsunds. Die Berühmtheit Seattles reduziert sich inwischen wieder auf die dortige Existenz einer Boeing-Fabrik und die Höhenmeter der „Sky-Needle“, ein futuristisch anmutender Fernsehturm, der auch nur entfernt etwas mit der musikalischen Geschichte der Stadt zu tun hat: Die Mutter des Pearl Jam Bassisten soll dort die ersten Wehen verspürt haben, mit denen sich der kleine Jeff Ament ankündigte.

Beim Namen Pearl Jam schüttelt der Taxifahrer ahnungslos den Kopf, das ist immer ein gutes Zeichen, vielleicht hätte man noch den Nirvana-Test machen sollen … Ob es für Pearl Jam ein Glück war, in der aufbrausenden Hysterie um ihren Heimatort groß zu werden, läßt sich im Nachhinein wohl nur nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten bewerten. Nach außen jedenfalls sah die junge Bandgeschichte der Fünf im Jahre 1992 wie der perfekte Masterplan aus. Nicht nur. daß sie zur rechten Zeit am rechten Ort waren, wo alle Welt nach den passenden Zauberlehrlingen für ein zweites Nirvana-Wunder fahndeten. Fast exemplarisch für ihre eigene Situation mimten sie außerdem in Cameron Crowes Film „Singles“ die Begleitband von Hauptdarsteller Matt Dillon, der im besten Grunge-Outfit Szenen aus dem richtigen Seattle-Leben spielte: „Unsere Musik hat mit dem typischen Sound dieser Stadl nicht das geringste zu tun.“

Film-Zitat Ende.

In ihrer wahren Existenz waren Pearl Jam derweil tatsächlich vorwiegend damit beschäftigt, den Hype um die Heimat in Interviews abzuwiegeln und außerdem die ungewöhnliche Geschichte ihrer Zusammenkunft geduldig zu wiederholen. Welche ohnehin damit anfängt, daß das Pearl Jam-Mitglied mit dem größten Massen-Appeal, Sänger Eddie Vedder, gar nicht aus Seattle stammt, sondern bis zu seiner Berufung an die Seite des angestammten Nord-West-Saiten-Gespanns Jeff Ament (b) und Stone Gossard (g) im kalifornisch sonnigen San Diego als passionierter Surfer die Wellen des Pazifiks bezwang, wenn er nicht gerade als Roadie in ortsansässigen Clubs gierig Rockstardunst schnupperte. Daß der Umzug in den hohen Norden und das Pearl Jam Debüt „Ten“ ihn binnen kürzester Zeit auf die andere Seite des Ufers schwemmen sollte, scheint für Vedder bis heute das

größte Problem. Mit wachsendem Erfolg und drei Millionen verkauften Alben Ende 1992 sahen sich Pearl Jam nicht nur mit Anfeindungen aus benachbarten Musikerkreisen, die ihnen Ausverkauf und Mainstream-Attitüden anlasteten, sondern ganz allgemein mit dem Berufsbild Popstar konfrontiert.

„Aus der ganzen Geschichte ist fast ein Job geworden und genau das wollten wir immer vermeiden, “ war Gitarrist Stone Gossards resigniertes Resümee Ende 1992 im amerikanischen Musikmagazin „Spin“, das Pearl Jam zu den Aufsteigern des Jahres gewählt hatte.

Pearl Jam’s Management-Headquarter in Seattle hat gerade neue Räumlichkeiten bezogen, doch offensichtlich nicht, um den Edelmetall-Auszeichnungen ein repräsentatives, dem neuen Stand gemäßes Umfeld zu geben. Erst beim dritten Umkreisen eines unscheinbaren Gebäudes an einer unfreundlichen Hauptverkehrsstraße, winkt eine junge Dame aufgeregt aus einem kleinen Fensterrahmen: „Ihr sucht sicher uns.“ Eine schmale Treppe führt in heimelige, sympathisch ungeordnete Büroräume, die Band hat natürlich Verspätung. Zeit genug, das neue Album anzuhören, wenn sich nur der Schlüssel finden würde zu dem Raum, in dem der DAT-Player steht… Im Allerheiligsten des Management-Büros zeugen skurrile Dekorationsobjekte von angenehmer Menschlichkeit: ein Elvis-Altar. Pearl Jam Gitarrist Mike McCreadys zertrümmerte Gitarre, in ihren Einzelteilen sorgfältig gerahmt, ein alter Bühnenanzug von Sammy Davis Jr, an die Wand eepinnt. Lange vor seiner Pearl Jam- ¿

Zeit betreute Manager Kelly Curtis Mr.Bojangles — er kennt sich aus im Geschäft.

Die unspektakuläre Gewöhnlichkeit des Pearl Jam-Umfelds hat System: „Es gibt einen Trick, mit der Hysterie umzugehen: Man ignoriert einfach alles.“

Wenn Eddie Vedder spricht, bleibt sein Blick meist zu Boden gesenkt, seine Finger sezieren Grashalme, seine Stimme klingt gedämpft, manchmal fast unhörbar. Der Mann ist auf der Flucht — vor dem eigenen Image. Und selbst unter den versöhnlichen Sonnenstrahlen in Seattles größter Parkanlage, wo wir uns stilgemäß auf der grünen Wiese niedergelassen haben, wirkt Vedder wie ein Getriebener auf der Suche nach dem nächsten Mauseloch.

Seit dem Erscheinen des Debüts Jen“ haben Pearl Jam ihren Starrunplatz in den amerikanischen Charts, bei den diesjährigen MTV-Video-Awards waren sie mit drei Auszeichnungen die großen Abräumer und Eddie Vedder ist mit der emotionsgeladenen Rock-Variante seiner Band zur hoffnungstragenden Leitfigur einer jungen Generation von Suizid-Kandidaten und Weltverbesserern geworden. Nach 14 Monaten Tour und der Produktion einer heiß ersehnten zweiten Platte liegt ihm die Last des neuen Lebens schwer auf den Idealisten-Schultern.

Doch wenn Eddie Vedder kurz die bohrend blauen Augen hebt, um seine Wahrheit zu verkünden, verlieren Musikerplatitiiden jeden Klischeegeruch.

„Ich versuche ein normaler Mensch zu bleiben. Wenn man zuviel über die Erwartungen nachdenkt, die plötzlich von allen Seiten an einen gestellt werden, läuft man Gefahr, sich zu verändern. Man versucht tatsächlich so zu werden, wie einen jeder gerne hätte.“

Bis zum großen Pearl Jam-Erfolg hatte Eddie Vedder mit seinem Selbstbild keine Probleme. „Musik. Ich wollte immer nur Musik machen. Ich habe lian dafiir gearbeitet, habe eine Menge Drecksjobs gemacht. An meiner Liebe und Leidenschaft für Musik hat sich auch heute noch nichts geändert. Wenn man ein besessener Musiker ist, und sich irgendwann nicht mehr danach fühlt, zu spielen, läuft etwas total verkehrt.“

Als Vedder nach der letztjähngen Tour-Tortur ins neue Heim in Seattle zurückkehrte, wollte er „nur noch für mich spielen, oder allenfalls für meine Freundin. “ Und auch das erst, als er sich vom Rock n‘ Roll-Road-Zombie wieder zum normal funktionsfähigen Menschen zurückentwickelt hatte. „Meine Freundin hat mich die ersten paar Tage angesehen, als wäre ich ein Monster. Ich saß Stunden nur in der Ecke mit einem Stück Papier und habe darauf herumgekritzelt, oder ich bin endlos im Zimmer auf und ab gelaufen. Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber es ist alles andere als lustig, wenn es einem passiert.“ Selbst Bassist Jeff Ament. — sonst eher für positives Denken in der Band zuständig —, der bislang die Problemstunde mit Kollegen Vedder interessiert aber bisweilen verständnislos verfolgte, hat sein persönliches Tour-Trauma: „Ich bin danach in die Berge gefahren und wollte nur noch alleine sein, mit niemandem mehr sprechen. Wenn so ein Zustand eine Weile anhält, bekommst du irgendwann Angst vor dir selbst.“

Denn, soviel Stumpfsinn auch über die ortsansässige Szene geschrieben und gesprochen worden sein mag, Rummel um die eigene Person ist der erfolgreiche Seattle-Musiker tatsächlich nicht gewohnt. Vorbei schlendernde Teenies auf Spaziergang im Park verursachen keinen Massenauflauf, sondern begnügen sich beim Anblick Eddie Vedders mit fröhlichem Winken aus der Ferne, bei einem abendlichen Konzertbesuch in Seattles angesagtestem Alternativ-Musik-Club The Crocodile bemerkt keiner den Unterschied zwischen Ament, Gossard und den restlichen Shorts-Trägern.,. In dieser Stadt kauft dir keiner aufgesetzten Scheißdreck ab. Wenn hier jemand versuchte, Bon Jovi zu sein, würde er bloß ausgelacht. „

Auch nach der Seattle-Hystene ist für Eddie Vedder seine Wahlheimat Hoffnungsquelle für die ganze US-Nation. „Ich glaube, daß sich die amerikanische Jugendkultur gerade stark verändert, vor allem hier. Die Kids haben die Schnauze voll von Testosteron-strotzendem Band-Gehabe. Die ganzen Poser werden nicht mehr lange repräsentativ für amerikanisches Denken und amerikanische Musik sein. Hier oben war die ganze LA.-Szene immer ein Negativ-Beispiel, man hat ihre ganze Lächerlichkeit nur ab Antrieb gebraucht, um als Band genau das Gegenteil zu machen. Und deswegen ist die Musik, die wir und viele andere Bands aus dieser Gegend machen, viel ernsthafter und tiefgründiger.“

„Five Against One“ heißt das neue Album, die zweite Stufe ihrer Rock-Rakete, mit der Pearl Jam die amerikanische Musikszene läutern wollen (Kritik auf S. 56). Und wer immer der imaginäre Gegner des Seattle-Quintetts sein mag, ihr zweiter Streich klingt um einiges angriffslustiger als das Erfolgsdebüt „Ten“.

Zumindest für „Blood“, die aggressivste Attacke auf einem vielschichtigen Rockalbum, das an spannungsgeladener Emotionalität seinesgleichen sucht, gab Eddie Vedder im amerikanischen Rolling Stone die Schlagrichtung bekannt: „Es handelt von der Presse. „

Selbige wurde vor allen in Amerika letztes Jahr nicht müde. Pearl Jam als Hoffnungspnester für Amerikas verlorene Generation zu preisen. Doch Vedder sträubt sich mittlerweile gegen seine Rolle als vermeintlicher Seelendoktor für die Fans. Die Promotionakrivitäten für „Five Against One“ wurden auf ein Minimum reduziert, Fanbriefe beantwortet er schon lange kerne mehr. „Ich kann ihnen doch eh‘ nicht geben, was sie brauchen. Sie können all die Stärke, die sie brauchen, aus der Musik ziehen, wie ich. Ich kann nichts für sie tun. Ich komm doch kaum mit mir selber klar. “ Fast verzweifelt blickt Eddie Vedder der freudigen Erwartung entgegen, die ihn jetzt von allen Seiten überfällt. „Five Against One“ ist der Glücksfall eines zweiten Albums, nach ihrem erfolgreichen Start scheint Pearl Jam der Weltruhm gewiß. Doch Vedder kämpft weiter um sein Leben. „Es macht mir Angst, daß man keine Konirolle mehr über gewisse Dinge hat. Irgendein Mädchen schreibt einen verrückten Brief und er landet in meinem Brießasten. Ich kenne sie noch nicht mal, aber sie schafft es, sich zwischen mich und meine Freundin zu stellen. Wir sind seit neun Jahren zusammen, und sie ist die wichtigste Konstante meines Lebens, aber ich könnte ihr nicht böse sein, wenn sie diesen Wahnsinn nicht mehr mitmachen wollte. “ Zum Ausgleich seines gestörten Gefühlshaushalts verwandelt sich Vedder auf der Bühne regelmäßig zum Energiebündel mit Hang zu unkontrollierbaren Risiken und klettert schon mal wie vergangenes Jahr in Berlin die Bühnentraversen rauf bis zum höchsten Punkt, weil ihm das Publikum gelangweilt erscheint. Und natürlich ist es genau der kompromißlose Einsatz, für den die Massen diese Band lieben. „Ich weiß daß ich oft sehr unvernünftig bin. Ich sollte aufhören, so zu reagieren. Wo mag das hinführen? Das nächste Mal steht man mit dem Messer auf der Bühne und säbelt sich den Arm ab…“ „Dasglaubt dir eh‘ keiner, die haben doch alle zuviel Schwarzenegger-Filme gesehen,“ wiegelt Ament ab. „7a, stimmt, die sitzen alle zu Hause, glotzen Videos, essen Fast Food, gehen auf 112 Konzerte, und ich Idiot mach‘ mir Gedanken.“

Auf dem Ruckweg ms Büro plaudert Vedder ausgelassen über die besondere Ästhetik seiner Lieblingssportart Basketball. Und so kann man ihm die selbst formulierte Philosphie der Pearl Jam-Musik wieder glauben: „Egal wie dein Leben ist, am Leben zu sein, ist auf jeden Fall etwas, das es sich zu feiern lohnt. “ Solange die Sonne in Seattle scheint, und vor den Toren der Stadt keine Welt auf ihn wartet… Doch genau das wird sie tun, mehr denn je. Und zwar mit Recht.