Meinung

Sexualität und Rassismus: Wie rückständig ist „Bridgerton“ wirklich?


Warum bedient sich eine Serie wie „Bridgerton“ einem progressiven Narrativ, um es dann aber nicht konsequent umzusetzen? Eine Analyse.

Achtung, dieser Artikel enthält Spoiler für die gesamte erste Staffel von „Bridgerton“.

„Bridgerton“ ist die bis dato erfolgreichste Netflix-Show aller Zeiten. Das Rom-Com-Historiendrama, das am ersten Weihnachtstag 2020 anlief, lockte innerhalb eines Monats 82 Millionen Haushalte vor den Bildschirm. Und kein Wunder – die von Star-Produzentin Shonda Rhimes und Chris Van Dusen entwickelte Serie scheint alles an glamourösem Eskapismus zu bieten, wonach sich Zuschauer*innen nach einem Jahr Coronavirus und Lockdown offenbar sehnen: Die Kostüme sind schillernd, die Partys ausschweifend, die Sexszenen explizit genug, um edgy zu wirken – und die Story eine perfekte Mischung aus „Gossip Girl“ und einem Jane-Austen-Roman. „Bridgerton“ zeigt eine Welt, in der Drama und Intrigen regieren, doch das Happy End selbstverständlich hinter der nächsten Ecke wartet. Ein mit Zucker überzogenes popkulturelles Format, in dem die aktuelle „Wer kriegt wen?“-Faszination von Reality-TV-Formaten wie „Love Island“ auf ein historisches Setting verlegt wird. Und ja: Das alles macht Spaß. Einen Riesenspaß sogar. An dem Genuss von seichter, leicht verdaulicher Unterhaltung wie „Bridgerton“ ist auch überhaupt nichts auszusetzen. Oder doch?

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Muss seichte Zuckerwatte-Unterhaltung unbedingt politisch sein?

Wer einmal hinter die glitzernde Fassade der Show schaut, enteckt einige kontroverse Punkte, die in vielen Reviews übergangen werden (bei dem Filmkritik-Portal „Rotten Tomatoes“ erreicht „Bridgerton“ 89% positive Kritiken). Insbesondere bei Themen bezüglich Sexualität, Rassismus und Klassismus ist die Serie nicht ganz so woke, wie sie unbedingt sein möchte. Das ist problematisch – vor allem, da die Show zwar offensichtlich in der Vergangenheit spielen soll, sich ansonsten aber als progressiv, selbstreflektiert und modern inszeniert. So erinnert die stets narratierende Lady Whistledown mit ihrem Klatsch-Newsletter an die aktuelle Überwachungs- und Newskultur durch Boulevardblätter und Social Media und es kann schon mal passieren, dass ein Streichquartett bei einem Ball „thank u next“ von Ariana Grande spielt. Somit stellt sich die Frage: Warum bedient sich eine Serie wie „Bridgerton“ einem progressiven Narrativ, um es dann aber nicht konsequent umzusetzen?

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Die Serie weiß selbst nicht, wo und wann sie sich verorten möchte

„Bridgerton“ versetzt die Zuschauer*innen nach London in das Jahr 1813 und konzentriert sich auf die Bemühungen der Familie Bridgerton und der konkurrierenden Familie Featherington, ihre Töchter baldmöglichst unter die Haube zu bringen. Lady Violet Bridgerton (Ruth Gemmell) hat acht Kinder, wovon die älteste Tochter Daphne (Phoebe Dynevor) in dieser Saison debütieren soll. Bevor sie jedoch der High Society präsentiert werden kann, muss sie wie alle anderen Bewerber*innen bei Queen Charlotte (Golda Rosheuvel) höchstpersönlich vortreten, die ihre Chancen – und damit ihr Schicksal – einschätzt. Die Königin zeigt sich über Daphnes Aussehen und Auftreten entzückt und betitelt sie als „Diamanten“ der Saison. Obwohl sich Daphne vor Bewerbern nun kaum mehr zu retten weiß, weist ihr großer Bruder Anthony (Jonathan Bailey) alle in Frage kommenden Herren ab – weshalb sie kurzerhand einen Deal mit dem attraktiven Duke of Hastings (Regé-Jean Page) eingeht: Die beiden präsentieren sich in der Öffentlichkeit als Paar, damit Daphne für potenzielle Anwärter interessanter wirkt und der heiratsablehnende Simon Hastings endlich in Ruhe gelassen wird. Alle Skandale, Intrigen und Geheimnisse werden dabei von einer anonymen Autorin namens Lady Whistledown kommentiert, die mit ihrem Gossip-Blatt das Schicksal über die Hauptcharaktere in der Hand zu haben scheint. Wissen ist Macht, so lautet auch hier die Devise. Das Problem ist, dass die Serie jedoch selbst nicht weiß, wo und wie sie sich selbst verorten möchte.

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Das Thema Rassismus wird einmal angesprochen – und das für nur zwei Minuten

Seitdem der erste Trailer veröffentlicht wurde, wird „Bridgerton“ für den mutigen Schritt gelobt, eine historisch angesiedelte Serie mit einem umfassend diversen Cast zu besetzen. Die Show möchte die Utopie einer Rassismus-freien Gesellschaft darstellen – eine alternative Realität, in der Sklaverei und Kolonialismus abgeschafft wurde –, verstrickt sich selbst allerdings in einigen Widersprüchen darüber, warum eine wichtige und gute Entscheidung wie diese getroffen wurde. So erklärte Serienschöpfer Chris Van Dusen gegenüber der „New York Times“, dass man bei „Bridgerton“ nicht von einem „farbenblinden Casting“ sprechen könne – also eine Besetzungsentscheidung, bei der die Hautfarbe der Figuren keinerlei Einfluss auf die Handlung hat – und sagte: „Das würde ja implizieren, dass die Hautfarbe nie eine Rolle gespielt hätte, obwohl sie in der Serie sehr wohl eine Rolle spielt.“ Und auch Hauptdarsteller Regé-Jean Page vermerkte: „Es gibt einen Unterschied dazwischen, Schwarze Haut auf dem Bildschirm zu zeigen und Schwarze Menschen auf dem Bildschirm zu repräsentieren.“ Trotz diesen klaren Aussagen, die darauf hinweisen, dass eine tiefergehende politische Ebene angestrebt wird, wartet man als Zuschauer*in jedoch viel zu lange darauf, dass sich die Serie auf ebendiese begibt. Wann das Thema Rassismus letztendlich aufgegriffen wird? In der sechsten Episode von „Bridgerton“ (von acht wohlgemerkt) – und das gerade einmal für zwei Minuten. Dort erklärt Lady Danbury dem Duke of Hastings, dass sich King George in eine Schwarze Frau – also Queen Charlotte – verliebt hätte und seither aus „zwei geteilten Gesellschaften“ eine wurde.

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Viele nicht-Weiße Journalist*innen haben sich daraufhin kritisch zu diesem „All you need is love“-Ansatz geäußert. So sagt Kathleen Newman-Bremang in einem Interview mit dem Titel „Hat Netflix‘ ‚Bridgerton‘ ein Rassismus-Problem?“ zu jener Sequenz: „Die Szene passte irgendwie nicht zum Rest der Show, in der Rassismus nicht zu existieren scheint. Außerdem schwingen da starke „Lasst uns den weißen Menschen dankbar sein“- und „Liebe siegt über Rassismus“-Vibes mit, was einfach merkwürdig ist – vor allem, da ihre Hautfarbe nie wieder angesprochen wird.“ Sie fügt hinzu: „Das fühlt sich so an, als hätten sie dieses kleine Appetithäppchen nur eingefügt, um behaupten zu können, Hautfarbe sei Teil der Handlung. So nach dem Motto: „Wir sind ja drauf eingegangen, seht ihr? Hier!“ Auch der Journalist Michael Blackmon spricht sich gegen diese Szene aus und kritisiert zudem die Rolle der Marina Thompson (Ruby Barker); eine entfernte Cousine der Featheringtons, die ihre Schwangerschaft verheimlichen muss, um von der Gesellschaft nicht ausgeschlossen zu werden. Blackmon schreibt: „Obwohl sich die Serie bemüht, zu zeigen, dass Frauen gerissen sein müssen, um die unterdrückende Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurden, zu überleben, fühlt sich der Ernst der Lage für Marina fast immer viel höher an als, sagen wir, für Daphne. Ein Fehltritt für Marina, als Schwarze Frau, könnte katastrophal sein, während Daphne, die die Unterstützung ihrer Familie hat, wahrscheinlich nicht den gleichen Sündenfall erleiden würde, nicht nur wegen ihres Privilegs, sondern weil sie Weiß ist.“ Somit sei sie eines der deutlichsten Beispiele dafür, „wie schlecht mit dem Thema Rassismus in der Serie umgegangen wird“, schreibt Blackmon.

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Fans kritisieren Jungfräulichkeits-Mythos und „male rape“-Szene

Ein weiterer Punkt, der auf den ersten Blick progressiv aussieht, jedoch einige problematische Aspekte aufweist, ist die Darstellung von Sexualität in „Bridgerton“. Sex-Szenen gibt es in der Serie bekanntlich en masse. Insofern war es mehr als erfreulich zu sehen, dass die Showrunner*innen einen großen Fokus auf weibliche Sexualität und „female pleasure“ gelegt haben. Schließlich ist eine weibliche Perspektive auf Sexualität etwas, das in Film- und Serien-Produktionen nach wie vor stark unterrepräsentiert ist. Umso bedauernswerter ist der Fakt, dass die Show dennoch den „Jungfrauen“-Mythos aufrecht erhält und reproduziert. Laut des Journalisten Simon Demmelhuber kann die historische Entwicklung von „Jungfräulichkeit“ aus zwei verschiedene Perspektiven betrachtet werden: Einerseits stellte die „unbefleckte“ Frau in der Antike ein Zeichen für „weibliche Stärke, Widerstandskraft und Unabhängigkeit“ dar. Andererseits beschreibt das Konzept auch „das Bestreben, die Herrschaft über das Hymen (Jungfernhäutchen, Anm. d. Red.) als Herrschaft über den weiblichen Körper zu installieren: Der Jahrtausende währende Versuch, im Lobpreis der Jungfräulichkeit die Sexualität und die Selbstbestimmung der Frau zu kontrollieren und zu unterdrücken“. In „Bridgerton“ wird dem Thema „Das erste Mal“ mehrere Folgen gewidmet und inszeniert die Männer dabei stets als allwissende Sexperten, während die Frauen naiv, ängstlich und teilweise sogar dumm dargestellt werden. Die jungen Damen sind über Sex null aufgeklärt, die Männer sprechen jedoch davon, sich erstmal im „Bordell abzuregen“, bevor sie sich auf die Ehe einlassen.

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Nicht zuletzt muss unter dem Punkt „Sexualität“ auch auf eine bestimmte Szene hingewiesen werden, die sowohl in der Serie als auch schon bei der gleichnamigen Buchvorlage von Julia Quinn für große Empörung gesorgt hat. In der sechsten Episode findet Daphne heraus, dass Simons Aussage, keine Kinder bekommen zu können, tatsächlich auf keiner medizinischen Ursache beruht, sondern einem persönlichen Entschluss entspringt. Aus Wut, dass er sie belogen hat, initiiert sie den Geschlechtsverkehr bis zum ungewollten Höhepunkt. Viele Zuschauer*innen bezeichneten Daphnes Handlung daraufhin als „male rape“ und haben sich bei Social Media zu der kontroversen Szene geäußert und sich gefragt, warum die Szene beibehalten wurde oder es keine Triggerwarnung gab. Schließlich – so viel kann sicher sein – hätte dieselbe Sequenz einen wesentlich größeren Shitstorm nach sich gezogen, wenn es Daphne gewesen wäre, die von Simon zum Sexualakt gezwungen wird. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass trotz einer gesellschaftskritischen und fortschrittlichen Herangehensweise einer Show wie „Bridgerton“ dennoch Aspekte zu finden sind, die kritisch betrachtet werden müssen. Und dass dies auch relevant ist, um einen Diskurs zu schaffen.

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Irgendwo zwischen Fiktion und Realität, Historie und Utopie

„Bridgerton“ ist ein interessantes Beispiel für eine Serie, die gute Absichten verfolgt – aber auf dem Weg zum Ziel ständig von ihrem Pfad abkommt. Die Show möchte so modern, so progressiv sein, dass sie sich irgendwo zwischen Feel-Good-Serie und politischem Drama positioniert, ohne zu einem wirklichen Ergebnis zu kommen. Ja, die Show könnte eine erfrischende Abwechslung sein; eine fantasievolle Utopie, in der alle Menschen von ihren gesellschaftlichen Strukturen und systemischer Unterdrückung befreit sind – diesen Weg schlägt „Bridgerton“ jedoch nie uneingeschränkt ein. So entsteht ein unzufriedenstellendes Gemisch irgendwo zwischen Fiktion und Realität, Historie und Utopie. Und damit ist „Bridgerton“ leider in vielen Punkten unabsichtlich so rückständig wie die Zeit, in der die Serie spielen soll.

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