Scott Walker: Ein Scharlatan, aber ein ehrlicher
Vom umschwärmten Popstar als Walker Brother zum radikalen Avantgardisten, das war Scott Walkers Werdegang. Anlässlich seines Todes gibt es unsere ME-Helden-Geschichte aus dem November 2016 hier in voller Länge.
Auch das ist einer der Gründe, warum wir so lange auf den „echten“ Scott Walker warten mussten: Die mangelnde Bestätigung, das ausbleibende Echo der Öffentlichkeit, ließen ihn an seinem Weg zweifeln. Es ist vielleicht das entscheidende Moment seiner Karriere. Was wäre geschehen, hätte SCOTT 4 den Erfolg der Vorgänger wiederholen können? Wahrscheinlich, so mutmaßt Walker selbst ineinigen Interviews, wären wir früher da angekommen, wo wir heute sind: In der Avantgarde. Doch die Zweifel und die ernüchternde Einsicht, dass sich die Musikwelt von ihm abgewandt hatte, führen in eine oft übersehene Phase in seinem Schaffen. Dass über die Platten Walkers aus den 1970er-Jahren so gut wie nie gesprochen wird, hat einen Grund: Sie sind alle sehr schlecht. Scott Walker singt belanglose Coverversionen von Folk- und Country-Standards und erhofft sich so, wieder ein Publikum für seine selbst geschriebene Musik zurückzuerobern. Leicht ist das nicht: Walker hatte eine Dänin geheiratet, die mit der gemeinsamen Tochter in Kopenhagen lebt. Er muss eine Familie ernähren, während die Ehe langsam zerbricht. Allein ist Scott Walker mit seinen Problemen allerdings nicht: Gary und John war der große Solodurchbruch erst recht verwehrt geblieben. John ist finanziell sogar so am Ende, dass er mit dem Gewinner einer Castingshow einen neuen Walker-Brothers-Anlauf wagt. Gary hat mit einem Cover von „Hello, How Are You?“ von den Easybeats eine Zufalls-Nummer-eins in Italien, die ihm jedoch nicht weiter auf die Sprünge helfen kann. Die Reunion ist wohl für alle drei das Beste: Aus den heißbegehrten Jungs von vor wenigen Jahren war eine Selbsthilfegruppe geworden. Die drei ziehen in eine WG in London, stöbern gemeinsam in Plattenläden und sonnen sich in ihrer Freizeit nackt auf dem Dach.
In den Dschungel der Avantgarde
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Scott Walker ausgerechnet die Band, vor deren Erfolg er einst geflohen war, als Vehikel nutzt, um sich endlich seine künstlerische Freiheit zurückzuerobern. Wer den Moment sucht, in dem er die ausgetretenen Trampelpfade der Popmusik verlässt und Reißaus nimmt in den Dschungel der Avantgarde, der findet ihn auf dem letzten Walker-Brothers-Album NITE FLIGHTS von 1978. Nach zwei durchschnittlichen Platten ergibt sich für die Band eine einmalige Möglichkeit: Ihr Label GTO Records steht vor der Pleite und wird nach NITE FLIGHTS ohnehin schließen. Wie die Platte klingt, ob sie sich gut verkaufen wird: Völlig egal. Für Scott ist das ein Segen. So sorgt er schließlich dafür, dass das Album in drei Teile gegliedert ist: Jeder der drei durfte sich ein paar Lieder lang austoben. Scott Walker tankt bei diesem Ausflug gehörig Selbstvertrauen. Nicht nur, dass David Bowie plötzlich mit ihm zusammenarbeiten will und ein von Julian Cope zusammengestelltes Best-of-Album seine Legenden-Werdung einläutet: Virgin Records bietet Walker einen Deal über satte zwölf Alben an. Würde man nur reine Solowerke mitzählen, käme er bis heute auf vier. Walker unterschrieb natürlich trotzdem – und liefert jahrelang gar nichts ab. Bis er in das Ferienhaus aus der Kleinanzeige zieht und schreibt. Von den acht Liedern, die sein neues Album CLIMATE OF HUNTER bilden, haben gleich vier keinen Namen, sodass das einst so hoffnungsvolle Label ein Stück namens „Track 3“ als Lead-Single promoten muss. Ein letzter vogelwilder Versuch seines Managers, aus Scott wieder den Goldesel längst vergangener Zeiten zu machen, scheitert: Ein Coveralbum mit Songs von Mark Knopfler und Boy George lehnt Walker 1985 ab.
TILT – brutal, verstörend und kaum auszuhalten
Stattdessen wird er noch radikaler. Erst 1995 erscheint der Nachfolger TILT, ein brutales Album mit verstörenden Kunstliedern, kaum auszuhaltenden Beats und Streichern. Auf THE DRIFT im Jahr 2006 haben sich die Songstrukturen völlig aufgelöst, an ihre Stelle sind schwer genießbare Klang- und Text-Experimente getreten. BISH BOSCH von 2012 macht den Reigen komplett. Es sind ambitionierte Werke, voller Rätsel und voller Abgründe, doch man würde ihnen nicht gerecht, schaute man nur auf die dunkle Seite. „You could easily picture this in the current top ten“, lautet eine der ersten Zeilen von THE DRIFT, die Walker über ein peitschendes Gitarrenriff heult. So kann man seine neuen Werke auch sehen: Als eine humorvolle Aufbereitung seines frühen Schaffens. Scott Walker kommt aus einer Ära, in der man Alben noch in wenigen Tagen aufgenommen hat. Was er in all der Zeit macht, die ihm seit NITE FLIGHTS zwischen den Projekten bleibt, weiß außer ihm keiner. Die Antwort, die er einem Journalisten auf diese Frage gibt – in Vauxhall in Bars sitzen und den Gästen beim Darts-Spielen zuschauen – hat sich im Laufe der Jahre zum Running Gag entwickelt. Schließlich hat Walker immerhin an diversen Tanz- und Film-Soundtracks und dem Pulp-Album WE LOVE LIFE mitgearbeitet. Doch hinter seiner Zurückgezogenheit stecken auch andere Gründe. Profane, wie zum Beispiel die Logistik oder das Aufnahmebudget, von dem er bei THE DRIFT ein Drittel an einem einzigen Tag ausgeben muss, als die Streicher eingespielt werden. Aber auch persönliche. Schon als Kind war Walker zum Alleinsein verdammt. Was er heute braucht, um kreativ zu sein, sagt er, ist vor allem die Stille. Er hat kein Interesse mehr, in der Öffentlichkeit zu stehen. Er macht sich aber auch nicht ständig auf die Suche nach neuen Klängen und Ideen. Er wartet lieber auf sie. Und manchmal wollen sie eben nicht kommen.
Schweinelenden statt Percussions
Wenn es dann doch so weit ist, wenn Scott Walker seiner Musik beim Entstehen zusieht, wirkt er regelrecht aufgedreht. Der Mann, den wir in der 2006 gedrehten Dokumentation „30 Century Man“ sehen, wie er seinen Musikern Anweisungen gibt, hat nichts mit der merkwürdigen Gestalt vom Auftritt bei Jools Holland zu tun. In einer beispielhaften Szene erklärt Scott Walker dem bemitleidenswerten Schlagzeuger Alasdair Malloy, wie man am besten auf ein Stück Fleisch einprügeln soll, dessen schroffen Sound er unbedingt für den Song „Clara“ braucht. braucht. Hinterm Mischpult geht Walker in seiner Rolle als Fleischdirigent völlig auf, macht Boxbewegungen, um zu zeigen, wie es richtig geht, während Malloy und Produzent Pete Walsh ratlos in die Gegend gucken und sich wohl fragen, ob sie dafür Musiker geworden sind. Walker schiebt Gegenstände über einen riesigen Holzquader, um die Reibungsgeräusche aufzuzeichnen. Und für einen bestimmten Gitarrensound, der wie das „I-Ah“ eines Esels klingt, geht ein ganzes Jahr drauf. Das mag nach dem Werk eines Wahnsinnigen klingen. Doch Walker lächelt ein sehr zufriedenes Lächeln. Denn er ist angekommen. Seine Geschichte ist letztlich auch die eines Mannes, der oft fehl am Platz war: Als Kind auf der Musical-Bühne, als Amerikaner in Großbritannien, als Brite in Dänemark, als visionärer Songwriter im Cover-Korsett.
Im Übrigen war das Fleischboxen auf gewisse Weise auch die Bewältigung eines Traumas: Als Kind war der kleine Noel mit seiner Tante im Kino und musste in der Wochenschau die Hinrichtung Benito Mussolinis und seiner Mätresse Clara Petacci mit ansehen. Der Anblick der leblosen Körper bereitete ihm lange Zeit Alpträume. „Clara“ von THE DRIFT thematisiert diese folgenschwere Hinrichtung. Es sollte nicht das letzte Ende eines Diktators bleiben, das Scott Walker vertonte: Ein Album später war Ceaușescu dran, der mit seiner Frau am 1. Weihnachtstag 1989 erschossen wurde. Das Stück heißt „The Day The ,Conducator‘ Died (An Xmas Song)“ und endet mit einem einsamen Xylophon, das die Melodie von „Jingle Bells“spielt. Klingt so ein Happy End?
Scott Walker mag vielleicht ein Freak sein, aber er hat Humor. Er mag vielleicht ein Scharlatan sein, aber ein ehrlicher.