Rock Ranicki


Ob Prosa oder Porno — das volle Bücherbrett wird immer beliebter. In ME/Sounds berichten Musiker über ihre private Lust an der Literatur. Was liegt bei Mick jagger auf dem Nachttisch, was bei Bob Geldof oder Sophie B. Hawkins?

Futter für seine weitschweifigen musikalischen Fantasien findet der exzentrische Brite Mike Oldfield vor allem in Science Fiction-Romanen. Von den Geschichten des ‚2ooi‘-Autors Arthur C. Clarke ist er so besessen, daß er das Album ‚Songs

Mike Oldfield

From Distant Earth‘ nach Clarkes Zukunftsthriller ‚Das Lied der fernen Erde‘ benannte. Doch neuerdings interessiert sich Oldfield auch für die Vergangenheit — allerdings nur, wenn sie auch mit der Zukunft zu tun hat: „Ich lese gerade alles, was ich über das Apollo-Raumfahrtprogramm erwischen kann. Ich hab‘ das ja als ^jähriger im Fernsehen mitverfolgt. Mich interessieren all die kleinen Begebenheiten, die da oben in den Raumschiffen passiert sind. Diese hoch trainierten, superlogischen, gesunden Astronauten kehrten alle als hoch religiöse Menschen zur Erde zurück“, glaubt der entrückte Engländer zu wissen und fügt hinzu: „Ich selbst brauche nicht zum Mond zu fliege. Ich fühle mich auch so wie die Jungs da oben.“

Ganz anders Garrett Dutton, Frontmann der amerikanischen Newcomer G. Love & Special Sauce. Der Saucenfetischist schwört auf ‚Jazz‘ und ‚Menschenkind‘, beides Werke von

Garrett Dutton (G. Love)

Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison: „Toni benutzt sehr intensive Bilder. Das ist reine Magie. Sie beschreibt zwar das Leben der Schwarzen, aber ich kann mich völlig mit ihren Figuren identifizieren. Daß ich ein Weißer bin, spielt dabei nicht die geringste Rolle.“

Mick Jagger dagegen mag Bücher mit Biß. Wenn der Rock’n’Roll-Veteran mal keine

Mick Jagger

Lust auf die sonst bevorzugten Historienschmöker hat, geht er mit den Horrorstories von Anne Rice ins Bett: „Annes Blutsauger haben etwas ungeheuer Sinnliches“, schwärmt der Chef-Stone, „diese Bisse, diese Leidenschaft…“

Auch Michael Hutchence hat’s mit der schwarzen Flatterbrut der Frau Rice. Der INXS-Vorturner gibt sich dem un

Michael Hutchence

längst verfilmten ‚Interview mit dem Vampir‘ nebst den drei Folgebänden hin. „Eine wohlige Gänsehaut“, so der 33jährige Australier, „hole ich mir aber auch bei Peter Hoegs eisigem Thriller ‚Fräulein Smitlas Gespür für den Schnee‘.“

ZZ Top-Gitarrist Bill Gibbons, als Kunstsammler eher Schöngeist denn Biertrinker, wird auch in literarischer Hinsicht

seinem Image als Mensch von feiner Lebensart gerecht: „Mir gefallen momentan besonders ‚Die Prophezeiungen von Celestine'“, berichtet der dürre Bartträger und verneigt sich damit vor dem inzwischen weltweit beachteten Autor James Redfield (den übrigens auch R.E.M.s Bill Berry zu seinen Lieblingsliteraten zählt).

Sophie B. Hawkins Sophie B. Hawkins dagegen mag’s frauenbewegt, und zwar so wie in ‚)acke wie Hose‘, einem Buch der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Rita Mae Brown: „Rita Mae schildert das Leben einer Gruppe von befreundeten Frauen im Pennsylvania der Jahre 1910 bis 1980“, erzählt Sophie B. und ergänzt: „Mit der lesbischen Hauptfigur Celeste Chalfonte konnte ich mich beim Lesen gut identifizieren, weil sie total unabhängig ist. Sie verkörpert für mich die typische emanzipierte unverheiratete Frau von 1920.“ Celestes wilde Vita hat Sophies Leben verändert: „Celeste ist Sportfan. Durch sie bin ich wieder aufs Reiten gekommen.“

Anders als seine Kollegin aus New York zieht der kanadische Schmuserocker Bryan Adams leichten Lesestoff vor. Adams empfiehlt ‚Mein Jahr in der Provence‘ und Toujours Provence‘ Bryan Adams des Engländers Peter Mayle. „Mit Mayles amüsanten Beobachtungen, denen die südfranzösische Lebensart zugrunde liegt, habe ich mich bei meiner letzten Welttournee über widrige Backstage-Umstände hinweggetröstet.“

Das literarische Interesse von David Byrne hingegen gilt in erster Linie Werken über die VerDavid Byrne

gangenheit seiner Heimatstadt: „Luc Santes ‚Low Life — Lures & Snares Of Old New York‘ erzählt die Geschichte von Downtown New York, von Bars, Straßengangs und Nutten in der Bowery, der Lower East Side. Das fasziniert mich“, gesteht der Denker aus Amerika. „Offensichtlich war das Bier früher so billig, daß manche Wirte das Gesöff nur in Gummischläuchen ausschenkten. Direkt vom Faß. Der Gast durfte dann so viel trinken, wie er mit einem Atemzug schaffte. Doch es gab eine Menge Gauner, die den Zechern K.O.-Tropfen ins Bier träufelten und sie dann ausraubten. In dieser Hinsicht“, grinst Byrne, „hat sich in New York nicht allzu viel verändert.“

Chris Barron Apropos Veränderung. Chris Barron, dem Sänger der Spin Doctors, scheint Wandel bisweilen regelrecht suspekt. Und so empfiehlt der Vielleser wärmstens Klassiker wie das altenglische Heldenepos ‚Beowulf aus dem 8. Jahrhundert, für das ein gelehrter Mönch eine dänische Sage aus dem 6. Jahrhundert verarbeitete. „Da sind uralte Weisheiten drin, die dir die modernen Medien nicht mehr vermitteln. Unsere Generation verfügt nur noch über ein sehr schwammiges Pflichtgefühl“, moralisiert der 27jährige Barron, „deshalb versuche ich, alte Weisheiten aus Büchern in unsere Musik zu packen.“ Jetzt büffelt Barron Griechisch, um Homers ‚llias‘ in der Originalsprache lesen zu können. Aus gutem Grund, wie der Rocker mit der Hippie-Attitüde meint: „Eine Menge dieser angeblich politisch so korrekten Leute machen Homer gerade nieder. Dabei macht dieser Mann in seinen Werken doch nur deutlich, daß Krieg etwas Schlechtes ist.“

Derlei tiefschürfende Erkenntnisse sind auch Simple Minds-Oberhaupt Jim Kerr nicht verborgen geblieben. Doch anders als sein US-Kollege Barron übt Kerr sich auch in literarischer Hinsicht in britischer Bescheidenheit: „Ich lese am liebsten Bücher über die Geschichte meiner schottischen Heimat.“ Ansonsten rät der 35jährige Sänger und Songwriter aus Glasgow zu den sarkastischen Arbeiten der britischen Schriftlim Kerr

stellerin und Journalistin Dorothy Parker.

Kerrs deutsche Kollegin Jule Neiget bleibt auch mit Blick auf ihre bevorzugte Lektüre im eigenen Land: „Heinrichs Bölls ‚Ansichten eines Clowns‘ gehört zu meinen Lieblingsbüchern“, berichtet die bekennende Blues Lady aus Ludwigshafen, „und Rainer Maria Rilkes ‚Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘ über die Lebensweise eines Jule Neiget depressiven, frustrierten Dichters lese ich immer wieder. Vor allem die Metaphern faszinieren mich.“

Ganz anders US-Rocker David Lee Roth. Mit bildreicher Sprache hat der herzhaft rauhe Beau nichts am Hut. Dafür aber um so mehr mit bunten Bildern: „Am David Lee Roth liebsten lese ich Pornos und kiloweise Zeitschriften.“

Bob Geldof gibt sich da schon weit seriöser. Sir Bob krallt sich Bob Geldof in jeder Biographie fest, der er nur habhaft werden kann: „Von Pablo Picasso über Mao Tse Tung bis hin zu den Lebensgeschichten von Hitler und Stalin hab‘ ich so ziemlich alles durch.“

Geldofs Grammy-gekrönte US-Kollegin Bonnie Raitt hat’s mehr mit der spirituellen Seite des Lebens als mit harten Fakten: „Wer in Los Angeles ist, sollte unbedingt dem ‚Bodhi Bonnie Raitt Tree‘ einen Besuch abstatten. Das ist der Buchladen, in dem ich mich mit spiritueller Literatur eindecke.“ Zuletzt zog Frau Raitt dort Shakti Gawains ‚Stell‘ Dir vor‘ über „kreative Imagination“ aus dem Regal.

Ähnlich spannend auch die Lieblingsliteratur von Joshua Kadison. Zu seinen Buchfavoriten zählt Rudolf Steiners ‚Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten‘: „Am meisten konnte ich mit den Wahrnehmungsübungen anfangen. Da empfiehlt Steiner, daß man sich ein Samenkorn auf die Hand loshua Kadison legt und sich die verborgene Lebenskraft darin bewußt macht. Außerdem imponiert mir das Erziehungssystem, das Steiner für die Waldorfschulen entwickelt hat.“