Rhythm & Softrock


Sam Beam, der Kurator des Projekts Iron And Wine, hat sein Meisterwerk aufgenommen.

Der Mainstream ist ein Mythos. „Yeah, das ist er!“, ruft Sam Beam in Texas amüsiert ins Telefon und lacht in seinen Bart. Wenn es den Mainstream gäbe, müsste „Joy“ von seinem fünften Album GHOST ON GHOST auf sämtlichen Kanälen laufen. Es ist einer dieser Songs, die sich einem sofort erschließen. Einladende Harmonien, freundliche Gitarren und Klaviere und ein kleiner Chor, der davon singt, wie schwer das Leben ohne Liebe wäre: „Born bitter as a lemon / But you must understand /That you’ve been bringing me joy / Oooh, Aaah“. Zweieinhalb Minuten, Goldener Schnitt. Hal David und Burt Bacharach hätten es in den späten Sechzigern nicht schöner machen können. Auch Cat Stevens nicht.

Das Album lässt die vorigen vier Platten klingen wie geglückte, aber unentschlossene Vorarbeiten. Beam war 27, als er sich den Decknamen Iron And Wine gab, sich daheim vor ein geliehenes Vierspurtonband setzte und sein erstes Album aufnahm. Angeregt hatte ihn Jonathan Poneman, Mr. Sub Pop, er war durch ein Indie-Magazin auf eine Demoaufnahme gestoßen. THE CREEK DRANK THE CRADDLE fiel im Herbst 2002 in die wieder erblühende Folklandschaft. Sam Beam sang seine Hüttenlieder, dazu trug er schon den malerischen Rauschebart, den damals noch nicht jeder trug. Anschließend fuhr er nach Chicago in ein ordentliches Tonstudio und spielte, ebenfalls für Sub Pop, OUR ENDLESS NUMBERED DAYS ein. Seither wird er von Brian Deck betreut, der jedes seiner Alben sorgsam produziert. THE SHEPHERD’S DOG erschien 2007. Beam ließ erstmals Vorlieben für Jazz und Dub erkennen sowie seine Abneigung gegen den damaligen Präsidenten George W. Bush. Zuletzt veröffentlichte er das Album KISS EACH OTHER CLEAN, das unter Folkloristen für erhebliche Verwirrung sorgte. War das überhaupt noch Folk? Oder schon progressiver Softrock? Im Konzert scharte er Musiker verschiedener Bands und Spielarten um sich, aus dem Afrobeat von Antibalas, dem Postrock von Isotope 217 und dem Straßenfolk von The Swell Season. Dennoch hörten sich die Stücke an wie Songs, die in den Siebzigerjahren für die Straßenmitte reserviert waren. „Meine Musik erinnert mich daran, wie ich als Kind im Auto auf dem Rücksitz saß“, sagte Sam Beam über sein viertes Album vor zwei Jahren.

„Heute sitze ich im Auto vorn“, erklärt er fröhlich, irgendwo am Rand von Austin. Von der winzigen Ortschaft Dripping Springs in der Prärie von Texas ist er näher an die Stadt gezogen. Viele halten Beam für einen scheuen Schrat, für einen sonderbaren Spaßvogel. Vielleicht, um seine immer radiotauglicheren Lieder nicht nur heimlich gut finden zu können. Ironie und Wein: Sam Beam als Posterboy des weltumspannenden Hipstertums, als Kauz vom Dienst. Da lacht er sich am Telefon zu Hause schief. Humor, sagt er, brauche er für seine fünf Töchter, zwei bis 14 Jahre alt. Bei aller Heiterkeit betreibe er Musik als ernsthaften Beruf. Er möchte, dass die Hörer seine Stücke mögen. Auch wenn GHOST ON GHOST, das neue Album, mit einem gespielten Witz beginnt. 20 Sekunden lang hört man, wie seine Musiker im Nebenraum die Instrumente malträtieren. Umso netter fallen die akustischen Gitarren ein, durch die Akkorde wehen Bläser, und Sam Beam besingt die Heiden von South Carolina. Hier kam er zur Welt, im Sommer 1974. „Interessant, was für Musik dabei herauskommt, wenn man einen Song über die eigene Kindheit macht, über die Gegend, die Gerüche und Geräusche“, sagt er. Auf der Suche nach dem verlorenen Sound. Er redet über seine Eltern, liberale Kleinstädter mit einer umfangreichen Motown-Sammlung. Bei den Beams war allerdings auch Country nicht verwerflich. Der heranwachsende Sam brachte noch Indierock ins Haus, bevor er sich nach Florida zum Film- und Malereistudium verabschiedete.

Beam gestaltet seine Cover selbst. Diesmal hat er ein Bild der Fotografin Barbara Crane, zwei Liebende, in einen goldenen Kitschrahmen gesetzt wie eine biedermeierliche Miniatur. Die Filmästhetik prägt die Songs. In „Winter Prayers“ hört und sieht man einen Mann am Fenster in die Ödnis von Milwaukee starren, auf die Ökoautos und die letzten Spuren seiner Liebsten im Dezemberschnee. Klavier, Gitarren, angenehme Stimmen, Blende, drei Minuten. Diesmal war Sam Beam mit Brian Deck in einem komfortablen Studio in New York. Mit Tony Garnier, dem Bassisten von Bob Dylan, und mit Virtuosen aus dem jüngeren Jazz von Brian Blade bis Tony Scherr. Der Jazz schlägt dafür seltener durch als noch auf KISS EACH OTHER CLEAN. Am deutlichsten in „Lover’s Revolution“, wo, wie Beam verrät, Charles Mingus Pate stand. Aber der habe ja auch Jazz als freien Soul verstanden, und es sei kein Wunder, dass die großen Songwriter der Siebziger lieber bei Mingus elegante Melodien und Akkorde suchten als im Rock’n’Roll.

Man tritt Sam Beam mit keinem Musikervergleich zu nahe: Fleetwood Mac, die Eagles, Steely Dan. „Vergiss nicht Elton John!“, ruft er begeistert. Womit wir wieder beim Mainstream wären: „Was man früher Mainstream nannte, fasziniert mich immer mehr. Aber worüber reden wir? Über ein ökonomisches Modell? Als Musiker ist mir das zu abstrakt. Dafür, wie man das nennt, fühle ich mich nicht zuständig. Ich halte GHOST ON GHOST ja für ein R’n’B-Album.“ Es ist ein Album voller Roadsongs, die so klingen wie die Orte, an denen sie spielen. „New Mexico’s No Breeze“ etwa ist eine vollklimatisierte Überlandfahrt in die Wüste. Es geht um Autorenschaft. Sam Beam schreibt Songs über seine Geschichte und sich selbst. Über sein Weltbild als Agnostiker in Texas, über die Musik, die er nach Feierabend hört, und über seine Ausflüge. „Ich habe ja auch nie behauptet, Folk zu spielen“, sagt er. „Und wenn es denn unbedingt Folk sein soll, bitte ich darum, ihn nicht so eng zu sehen. Nicht als Woody-Guthrie-hafte Wald- und Wiesenmusik. Sagen wir es so: Ich spiele klassische Musik aus meiner Sicht als Amerikaner.“

Auch mit hilflosen Alternativbegriffen kann Sam Beam nichts anfangen. Americana, Alternative Country respektive Folk, Rock, Pop. Weil es nichts aussagt, über seine Art zu musizieren. Alles dreht sich um das Ideal des Songschreibens: einen hochkomplexen Song, dem man seine Komplexität nicht anhört. Das Einfache, das schwer zu machen ist. Sam Beam hat es mit GHOST ON GHOST erreicht. Bisher war er bekannt für ein paar Songs, die in beliebten Fernsehserien und populären Kinofilmen liefen, von „Grey’s Anatomy“ bis „Twilight“. Am bekanntesten ist Beam, der vielleicht beste Songwriter des 21. Jahrhunderts, aber für „Such Great Heights“. Er hat den Song gesungen und damit für M&M’s geworben, Erdnüsse im bunten Schokomantel. Geschrieben haben ihn Ben Gibbard und Jimmy Tamborello vor zehn Jahren als The Postal Service. „Ich bedanke mich ausdrücklich bei The Postal Service und bei M&M’s dafür, dass ich im Mainstream angekommen bin“, sagt Sam Beam.

Albumkritik S. 87