Jamie Woon
Making Time
Polydor/Universal VÖ. 6. November 2015
Viereinhalb Jahre nach seinem ersten Album nähert sich Jamie Woon der Essenz des Soul.
Jamie Woon hat zur falschen Zeit die richtige Musik gemacht. Als 2011 sein hervorragendes Debütalbum MIRRORWRITING erschien, keimte diese mittlerweile omnipräsente Mischung aus R’n’B, Soul und britischer Bassmusik gerade erst auf. Damals landete die Platte immerhin auf einem guten 15. Platz in den UK-Charts. Ein Achtungserfolg – doch hätte Woon sie damals in der Schublade gelassen und heute, pünktlich zum Höhepunkt der Welle, veröffentlicht, wäre ihm mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden.
Es passt zur scheuen Art des Künstlers, dass er genau das mit seinem zweiten Album nicht nachholen möchte. War auf dem Erstling noch Dubstep-Mysterium Burial höchstpersönlich an der Produktion beteiligt, klingt Woon vier Jahre später viel wärmer, souliger, besser gelaunt. MAKING TIME holt uns aus dem Club ins kuschelige Kaminzimmer. Wenn man hier an eine Veröffentlichung der letzten zwölf Monate denken muss, dann an D’Angelos triumphales Comeback-Album BLACK MESSIAH. Auch Jamie Woons Platte kreist auf einer geschmeidigen Umlaufbahn um den Kern des Soul – natürlich nicht mit der gleichen Qualität wie der des Großmeisters D’Angelo, aber ähnlich lebendig und detailverliebt. Die flirrenden Synthies und Drum Machines von MIRRORWRITING wurden wegrationalisiert und mussten „echten“ Instrumenten weichen, die nun das Geschehen dominieren: Die wunderschöne Ballade „Celebration“ wird von Bläsern angetrieben, in leiseren Stücken wie „Little Wonder“ packt Woon sogar eine akustische Gitarre aus. Das Fundament bilden aber stets satte Schlagzeuggrooves und Basslines, am besten nachzuhören auf der sehr reduziert wirkenden Single „Movement“.
Auch Woons Stimme macht dabei einen gewaltigen Sprung nach vorne, klingt auf dem neuen Terrain viel facettenreicher, als man sie in Erinnerung hatte: Die Phrasierungen sind feiner, die Produktion kommt fast ohne Effekte aus und wenn doch, dann passt auch das. Allein die Songs selbst müssen sich ihren Vorgängern geschlagen geben: Es fehlt der Hit. Selbst ein Lied wie „Sharpness“ kann trotz seiner gigantischen Hook einem „Night Air“ nicht das Wasser reichen. Kein neues „Lady Luck“ also, kein „Shoulda“ – und auch kein „January“, Woons hervorragende Zusammenarbeit mit Disclosure auf deren hervorragendem Debütalbum SETTLE, das zwei Jahre nach seinem erschien. Ein weiteres Beispiel dafür, wie radikal sich Woon innerhalb kurzer Zeit entwickelt hat: 2013 war es nur logisch, seine Stimme auf einem Disclosure-Track zu hören, heute ist allein die Vorstellung absurd. Disclosure haben auf ihrem kürzlich erschienenen zweiten Album CARACAL die gleiche Party weitergefeiert, die auf dem ersten so vielversprechend losgegangen war, doch die interessantesten Gäste hatten sich schon verabschiedet. Das Ergebnis war ein mit Mühe warmgehaltenes Dance-Pop-Süppchen und damit das genaue Gegenteil von Woons neuer Platte. Zwei Künstler mit ähnlichen Wurzeln, die heute verschiedener nicht sein könnten. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist Woons Wandel zum analogen Soul, der sich auf den frühen Stücken „Spiral“ und „Waterfront“ zumindest angedeutet hatte, keine schlechte Idee – gerade weil die alte schnell ausgelutscht ist.
In einer Pressemitteilung heißt es, Jamie Woon habe so lange für dieses Album gebraucht, weil er sich wie eine neue Person fühlen wollte. Tatsächlich klingt MAKING TIME wie das Debüt eines Künstlers, dessen Stimme zufällig der von Jamie Woon ähnelt. „It’s nice to know I’m doing something right“, lautet eine der ersten Zeilen des Albums. Recht hat er. Doch bis zum nächsten Arbeitsnachweis dürfen ruhig weniger als viereinhalb Jahre vergehen.