Billie Eilish
When We All Fall Asleep, Where Do We Go?
Darkroom/Interscope/Universal (29.03.2019)
Der Gegenwarts-Pop der 17-jährigen Kalifornierin widerlegt die landläufige Meinung, Musik von Teenagern müsse immer ein bisschen doof sein.
Billie Eilish hat durch die Gnade der späten Geburt (Jahrgang 2001) den großen Vorteil, sich mit den hoch interessanten Fragen, die die frühgeborenen Popkulturinteressierten so umtreiben, überhaupt nicht beschäftigen zu müssen. Internet als „Neuland“? Streaming als Gefahr für die physischen Tonträger? Wird’s bald keine CDs mehr geben? Stirbt das Album als Format? Ogott-ogott!
Für sie, die 17-Jährige aus Los Angeles, ist alles ganz normal: Musik vom „Streaming-Dienst“ beziehen, die Playlist als wichtigstes „Format“ des Musikkonsums und ein virtueller Ort, an dem wild wuchernder Eklektizismus die Musik der Jahrzehnte und die diversen Genres dekontextualisiert und zu einem einzigen Datenstrom verbindet. Früher haben sie „Mixtape“ dazu gesagt. Dieses Früher, die vordigitale Zeit, hat nie existiert für Billie Eilish, sie existiert nicht einmal als Erinnerung. Wahrscheinlich macht sich Eilish auch keine Gedanken über den Ewigkeitswert ihrer Musik, Gedanken, die für jene, die schon alles gehört zu haben meinen, das entscheidende Qualitätsmerkmal darstellt.
AmazonWenn Pop – im Idealfall – etwas über die Gegenwart aussagen und nicht als Perpetuum mobile funktionieren soll, das von retromanischen Schleifen angeschoben wird, dann ist Billie Eilish sein stärkstes Argument. Sie ist der neue Pop-Superstar, der innerhalb kürzester Zeit jene abgehängt hat, die Superstars gewesen sind (zum Beispiel Lady Gaga) und die, die welche hätten werden können (zum Beispiel FKA Twigs). Eilish wurde vom „NME“ in alter Sensationsmacher-Tradition gleich als „the most talked about teen on the planet“ bezeichnet. Und da ist was dran.
Sie ist der erste Superstar des digitalen Zeitalters (Währung: 14,7 Millionen Instagram-Follower, eine Milliarde Streams weltweit). Und sie hat mit WHEN WE ALL FALL ASLEEP, WHERE DO WE GO? ein Debütalbum gemacht, das genau von diesen Vorzeichen geprägt wird. Es hört sich an wie eine Playlist, die keinem Thema untergeordnet ist, sondern allein dem persönlichen Geschmack der Künstlerin, der wiederum durch das Hören von Playlists geschult wurde. Hier kommt zusammen, was unter den ungeschriebenen Pop-Gesetzen des letzten Jahrhunderts nicht zusammengehört: minimalistischer Elektro-Pop, Trap-Beats zu Balladen, Novelty-Music, HipHop-not-HipHop, Lo-Fi-Folk, eine jazzy Piano-Ballade, halbdunkle Stimmungen, die von subsonischen Bässen auf die ganz dunkle Seite gezogen werden. Das alles gibt es auf diesem Album zu hören. Es wurde co-produziert von Eilishs älterem Bruder (schon 21 Jahre alt!) Finneas O’Connell, der hatte 2016 ihre erste Single „Ocean Eyes“ auf Soundcloud hochgeladen, womit der Wahnsinn begonnen hat.
Vielem von dem, was sonisch und strukturell auf WHEN WE ALL FALL ASLEEP, WHERE DO WE GO? passiert, hätten wir vor wenigen Jahren noch das Adjektiv „futuristisch“ vorangestellt. Dass diese Musik (noch) vor allem von Teenagern geliebt wird, spricht gegen die These, dass Teen-Pop immer ein bisschen doof sein muss. Und dagegen, dass die Welt im Jahr 2019 immer schön Instagram-bunt dargestellt werden muss. Billie Eilish singt von unerfüllter Liebe, von Trennungen, von dunklen Gedanken, von Suizid. Kein Kalkül, keine Ironie, kein verlogenes Selbstmarketing, keine Spielchen mit Distinktionsgewinn-Kacke. Es ist einfach Gegenwarts-Pop.
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