Radikal Retro
Wer gut gekleidet ist, entscheidet Jan Joswig. Heute vor dem Stilgericht: Esperanza Spalding
Der Revolutionslook ist wieder aufregend – der doppelbödigen Schönheit eines 27-jährigen Multitalents sei Dank! Esperanza Spalding fusioniert die Protestsymbole Afro und Motorradlederjacke mit den Dameninsignien Halstuch, Brosche und Handtasche zu neuer Brisanz, wie sie auch in der Musik Experiment und Schmelz auszutarieren weiß. Mit ihrer Frisur verweist sie auf die widerständigen schwarzen Frauen der 1970er, Blaxploitation-Heldin Pam Grier und Black-Power-Revolutionärin Angela Davis. Eine eigenständige Persönlichkeit ist Esperanza Spalding auch. Sie gewann als erste Jazzmusikerin den „Best Newcomer“-Grammy und spielt mit legendären Koryphäen wie Milton Nascimento und Herbie Hancock. Aber Widerstand ist nicht ihr Ding. Sie überführt den einst revolutionären Afro in ein sehr gediegenes Hochkulturumfeld. Die Bassistin, Sängerin und Dozentin am Berklee College of Music fusioniert Jazz und Kammermusik zu einem neo-traditionellen Crossover-Pop, der Kultiviertheit und frische Natürlichkeit gleichermaßen vermittelt. Wie zuversichtlich sie strahlt unter ihrem Haarballon! Der unfrisierte Afro betont das Natürliche, Un-Artifizielle von Mensch und Musikerin. Nostalgische Sehnsucht nach handgemachter Musik und historisch abgesicherte Revolutionsromantik vereinen sich in ihrem Retro-Afro zu einer verwegenen Mischung. Diese Doppelbedeutung der natürlichen Haarkrause macht sich auch ein anderer erfolgreicher Neo-Traditionalist zunutze: Michael Kiwanuka mit seiner Bei-uns-im-ländlichen-Süden-Wolle à la Bill Withers. Angela Davis erinnert sich in ihrer Autobiografie „Mein Herz wollte Freiheit“ an die eindeutige Symbolik ihrer Frisur: „Meine Afro-Frisur, die im Sommer 1967 noch eine Seltenheit war, identifizierte mich als Anhängerin der Black-Panther-Bewegung. 45 Jahre später mit dem Afro ausschließlich darauf zu verweisen, wäre pubertärer Revolutionskitsch. Esperanza Spalding ergänzt das einstige Revolutionsfanal durch das liberale Natürlichkeitssignal – und kontert Davis‘ kategorische Parolen mit bürgerlicher Diskussionskultur: „Ich denke nicht, dass ich einen Standpunkt einnehme. Ich lade den Zuhörer zu einem Dialog ein.“ Vielleicht unterschätzt man aber auch das revolutionäre Potenzial von Esperanza Spalding. Blendend ausgesehen und an der Uni doziert hat Angela Davis auch.
Jan Joswig ist studierter Kunstgeschichtler, wuchs in einer chemischen Reinigung auf, fuhr mit Bowie-Hosen Skateboard und arbeitet als freier Journalist für Mode, Musik und Alltag. Was LL Cool J in den Achtzigern die Kangolmütze bedeutete, ist ihm der Anglerhut.