Rachel Chinouriri im Interview: Selbsthass führt ins Nirgendwo
Mit ihrer neuen EP macht sie klar, zu was ein Mindset-Wechsel alles führen kann – z.B. zu jeder Menge Selbstbeknutschung und Touren mit Sabrina Carpenter.

„Ich musste eine neue Art des Schreibens lernen“, grinst-redet Rachel Chinouriri einem entgegen und man weiß, dass dieser schnörkellose Hauptsatz nicht im Geringsten so geradeaus umzusetzen war. Als offen besungene Overthinkerin, als eine, die sich mit dem Depressionsdecke für Tage überziehen und spiralförmig nach unten ziehenden Lebensgeschichten von Menschen um sie herum auskennt, ist das ein Zehn-Jahres-Plan, den die 26-Jährige mal eben binnen weniger Monate für sich zurechtgemodelt hat. Das 2024 herausgebrachte Debütalbum der Britin, WHAT A DEVASTATING TURN OF EVENTS, machte sie einer vielapplaudierten Indie-Pop-Sensation und ließ sie den Job als Tournee-Opener für Sabrina Carpenter bekommen.
Und jetzt möchte die Könnerin der catchy Melodien eben deshalb nicht mehr in dem Negativ-Mindset stecken bleiben. „Ich will mir nicht länger sagen, dass ich mich selbst hasse. Das bringt mir nichts, das tut mir nicht gut. Ich will mir lieber sagen, dass ich stolz auf mich bin und das schätzen, wohin ich mich selbst gebracht habe. Nämlich dahin, wo keiner in meiner Familie bisher war. Ich meine, meine Eltern sind Immigranten, leicht hatten sie es nicht“, deutet sie an. Tatsächlich hatte die Singer-Songwriterin als jüngstes von fünf Kindern von simbabweanischer Immigrant:innen es zunächst schwer, als im Süd-Londoner Stadtteil Croydon – in der einzigen Schwarzen Familie der Gegend – aufwuchs. Tagtäglich erlebte sie Rassismus in all seinen Formen, fühlte sich unangepasst, wie in einem Leben zwischen den Stühlen, hatte mit Suizidgedanken zu tun.
Traumatische Erlebnisse begleiteten ihr Heranwachsen genauso wie die Songs von Daughter, James Blake, Coldplay und traditionelle simbaweanisische Gerichte. Doch sie möchte sich nun nicht länger selbst als eine Person sehen, die nur mit dem Innen und Außen kämpfen muss. Sie will sich anders betrachten – und sich auch mal amtlich feiern. „Ich denke, als jemand, der Musik schreibt, um der Negativität zu entfliehen, muss ich jetzt echt eine neue Art des Schreibens angehen, denn wenn ich den selbstzerstörerischen Weg, den ich zuvor eingeschlagen hatte, weiterverfolge, dann bin – mal abgesehen von meinem Karriereweg – ein ziemlich unglücklicher Mensch. Dann fängt man an, sich zu fragen, ob es das wert ist, all das öffentlich zu machen und über die eigenen mentalen Probleme zu reden. Welchen Sinn hat es also, eine Musikkarriere zu haben, bei der alles gut läuft, und dann nach Hause zu gehen und sich zu hassen? Ich bin aber immer noch im Findungsprozess.“
Eine Optimistin dank Gegenwartsbetrachtung
Ihren nächsten Entwicklungsschritt hat Rachel Chinouriri auf ihrer EP LITTLE HOUSE festgehalten. Das Coverartwork zeigt sie selbst im Grünen sitzend, neben sich hat sie einen Strauß Blumen von der Art liegen, die man gerne zum Geburtstag verschenkt. Und hinter Chinouriri ist eine Wohnanlage, die nach mehr als nur Tiny House aussieht. Vier Tracks umfasst die Veröffentlichung, mit der sie sich neu positioniert. Zwar immer noch als verdammt gute Beobachterin („Ich liebe es, mir die Lebensgeschichten der Menschen anzuhören, davon kann ich gar nicht genug bekommen!“), aber eben auch als Verliebte. Als Liebende. Als eine, die nicht nur im Gespräch dieses Verschmitzte in der Stimme haben kann.
Sie will uns von ihrer Überverknalltheit berichten, von ihren in alle Richtung gehenden Zukunftsfantasien. Und von zweiteren teilt die Musikerin auch im Interview gerne ausgiebig. „Ich möchte eine richtig lange Karriere haben. Auch wenn ich über 40 bin, ich möchte immer noch auf Tour gehen und Konzerte geben und auf Fans treffen und all das. Ich möchte ein langes kreatives, künstlerisches Leben führen, in dem ich rund um die Uhr auch mit Leuten im Austausch bin. Ich bin gerade dabei, dass größere Ganze zu mir und meinem Leben ausmalen zu können.“ Und diese positive Sichtweise geht noch weiter: „Was mich wirklich optimistisch in die Zukunft blicken lässt, das ist das Jetzt. Ich meine, ich bin gerade mit Sabrina Carpenter unterwegs und trete vor so 15.000 bis 20.000 Menschen auf, mit denen ich mit der Zeit eine echte Verbindung aufbauen kann.“
Diese 20 Tourstopps beinhaltende Konzertreihe mit Carpenter gibt ihr momentan den Kick, den sie braucht, um ihren Wandel weiter wie eine, die für Olympiagold angetreten ist, zu vollziehen. „Ich habe noch nie zuvor eine Tournee dieser Größe oder so viele Shows hintereinander durchgezogen. Das bringt mich ständig zum Schwitzen. Aber dadurch lerne ich im Schnelldurchlauf unfassbar viel dazu – auch über mich selbst. Und das sage ich als jemand, der sich eigentlich nur schwer mit Veränderungen abfinden kann. Noch vor ein paar Jahren hätte ich eine Art Nervenzusammenbruch gehabt, wenn sich etwas auf eine Weise änderte, wie ich es nicht gedacht hätte. Mein Gehirn braucht zwar immer noch lange, um sich auf einen Wechsel einzustellen, aber ich kann damit besser umgehen. Und ich muss das auch, um in dieser Branche überleben zu können.“
So kommt es, dass sie die beständig neue Umgebung on the road, die sie wie ein „tägliches Umziehen“ wahrnimmt, auch mit „Spaß“ framen kann. Dass sie diesen Augenblick wertschätzen und sich darauf einlassen möchte. Und wenn es dann doch mal alles holpriger wird, als es der gerne auf Social Media als sehr gerade verlaufene Selbstoptimierungsweg propagiert, dann hat die Britin ihre Hilfsmittel sofort parat. Entweder terminiert sie via Zoom Therapiegespräche oder sie macht noch mehr von dem, was ihr eh schon zu einer stetig wachsenden Karriere verholfen hat – sie schreibt ohne Ende. Wenn auch nicht direkt in Songform, denn das wäre dann wohl auf Tour doch zu viel Gewusel. Aber trotzdem: „Ich schreibe jeden Tag Tagebuch. Wenn ich das nicht täte, wüsste ich nichts mit mir anzufangen, um ehrlich zu sein.“ Selbst bei dem Tagebuch-Texten hätte sie die Perspektive auf das Gute verändert, gibt sie zu. „Es geht um Dankbarkeit in all meinen Einträgen. Und wenn ich zusammentrage, wofür ich gerade dankbar bin, wird das, worüber ich mosern wollen würde, so unglaublich nichtig.“
Das Trauma hält sie nicht mehr klein
Es ist Rachel Chinouriris Kampfansage an das Negative, was sie so lange Zeit umgeben, ja sie regelrecht zugeschnürt hatte. Was ihr Essstörungen, Angstzustände und Heulkrämpfe am laufenden Band geliefert hat. Sie will so nicht mehr. „Ich möchte mir selbst mehr verzeihen können“, so ihr Wunsch. Denn: Sie will ganz und gar lieben. Dafür bestätigt die Musikerin mit dem einprägsamen Falsetto im Gespräch noch einmal: „Ich werde nicht zulassen, dass das Trauma mich ruiniert, ich werde es weiterhin so verarbeiten, dass ich mich besser und glücklicher fühle.“
Erlebt man sie im Vorprogramm von Sabrina Carpenter könnte der Unterschied kaum größer sein. Da ist der Main-Act, der eine anderthalbstündige Show bietet, die von Anfang bis Schluss haargenau glatt-durchchoreografiert ist und da ist Rachel Chinouriri davor, die so ungefiltert ihr Selbst dem Massenpublikum entgegenwirft, spontan agiert, mit den Leuten gar ins Gespräch kommt, auch mal Tränen fließen lässt und die spätestens zum Set-Ende die Fans von Carpenter für sich begeistern und zum Mitsingen bewegen kann. Tatsächlich ist ihr anzumerken, dass sie es nicht glauben kann, wo sie sich selbst hinkatapultiert hat. „Die Bühne ist echt riesig. Hättest du mir vor einem Jahr gesagt, dass das auf mich zukommen würde, hätte ich mit dem Kopf geschüttelt.“ So, und wer kneift sie nun, um ihr ein für alle Male zu verdeutlichen, dass das derzeitig alles wirklich ihr passiert?