Punk


Stuhlreihen gehen zu Bruch, Musiker fallen bei Schlägereihen auf und werden von ihrer Plattenfirma gefeuert, Konzertveranstalter verschließen die Hallen, der Rundfunk mauert und spielt die neue Musik nur nach Mitternacht,wenn England schläft. Was ist faul am Punk-Rock? Die Antwort ist einfach:Alles! Und das ist auch gut so.

Die zweite Juniwoche machte exemplarisch deutlich, wo der Hund begraben liegt bei dieser neuen Rock-Revolte, die England seit Monaten erschüttert und die sich nun auch in Amerika, in Deutschland und anderswo regt. Im einflußreichen amerikanischen Branchenfachblatt ,Billboard‘ erschien eine ganzseitige silberfarbene Anzeige, mit der „Rocket Records“, die Plattenfirma von Elton John,Königin Elisabeth II. zu ihrem 25. Krönungsjubiläum gratulierte. Zur gleichen Zeit setzte sich die bislang erfolgreichste Punk-Single, „God Save The Queen“ von den Sex Pistols, in den britischen Top Ten fest. Textprobe: „Gott segne die Königin, ein faschistisches Regime; es macht aus dir eine Wasserstoffbombe, die kurz vorm Explodieren steht. Gott schütze die Königin; es gibt keine Zukunft für den englischen Traum.“ Das also ist es: Auf der einen Seite fettgewordene, schlaffe Popstars, die mit den Mächtigen paktieren, auf der anderen Seite die Zukurzgekommenen, die mit aberwitzig hämmernden Gitarren und Drums gegen das System anstinken. Der Punk, der in England nunmehr seit einem Jahr mit ständig wachsendem Erfolg sein Unwesen treibt, war einfach fällig. Hier bei uns in der Bundesrepublik kann man über seine Daseinsberechtigung streiten, ebenso in Amerika; im Lande Ihrer Majestät aber, da paßt er zur musikalischen und politischen Szenerie wie das Messer des Chirurgen zum Krebsgeschwür.

Arbeitslose, Inflation

Die Zahl der Arbeitslosen ist in England doppelt so hoch wie bei uns. Die Inflationsrate liegt nunmehr seit Jahren weit über zehn Prozent. Die Löhne sind niedrig, die Jobs knapp; Londons Wohnungsnot erschüttert, die Produktivität der Wirtschaft hinkt weit hinter der der übrigen Länder der Europäischen Gemeinschaft Italien ausgenommen – und der dei USA her. Hätten wir hier solche Verhältnisse… Wer weiß, mit welchen ultrarechten Ausnahmegesetzen hierzulande irgendeine autoritäre Regierung schalten und walten würde. Und gäbe es solche Verhältnisse in den USA, dann gäbe es dort auch wieder den Wilden Westen – wer zuerst schießt, bekommt den Job. Die Engländer mit ihrer demokratischen Tradition und ihrer offenbar angeborenen Fähigkeit, auch im schlimmsten Dreck cool zu bleiben, halten sich da großartig. Und selbst die wildkostümierten Punk-Fans mit ihren Sicherheitsnadeln in der Wange, ihren zerschlissenen Hosen und grell gefärbten Haaren stehen brav Schlange, um fürs Punk-Konzert eingelassen zu werden. Aber unter der Oberfläche, hinter der trügerisch normalen Geschäftigkeit auf der Oxford Street, da brodelt es in London. Denn: welche Chancen haben die „street kids“, die Typen aus den Hinterhofblocks, halbwegs menschlich durchs Leben zu kommen? Die Situation in London, in Glasgow und anderen britischen Industriestädten gleicht haargenau den Zuständen in Liverpool Anfang der sechziger Jahre: Fürr Teens, die aus der Schule kommen und vom großen Geld träumen, gibt es nur die Alternativen, kriminell zu werden, zum Fußballstar aufzusteigen oder Rock zu spielen.

Akustische Horrortrips

Im Vergleich zu den akustischen Honortrips, die heute Gruppen wie die Hot Rods, die Pistols, die Clash, Jam, Damned oder Saints abziehen, klang der Beat der Mersey-Szene vor fünfzehn Jahren reichlich brav – man höre sich die Beatles-Platte aus dem Star Club oder die ersten Studio-Singles aus Liverpool an. Klar doch:

in diesen eineinhalb Jahrzehnten ist aus der Rockmusik ein Bombengeschäft geworden, aber den Kids geht es immer noch nicht besser. Im Gegenteil: die Welt wird immer mehr mit Beton zugegossen, das Wasser dreckiger, die Luft stickiger, der Existenzkampf härter. Familien stehen unter Druck, weil nur der zusätzliche Job der Mutter noch die Miete sichern kann; Arbeitsplätze werden aber durch den rasenden technologischen Fortschritt wegrationalisiert. In der Schule regiert der Leistungsdruck (mein Gott, gibt es das alles wirklich nur in England?), Neurosen und andere psychische Schäden unter Jugendlichen gehören längst zum All 1 tag. Wundert sich da noch jemand über die ungeheure Aggression, die gewaltige Wut, die die Punk Rocker durch die Verstärker jagen?

Klar, alle Punk Rock-Bands wollen Geld verdienen und dicke Verträge von den Plattenfirmen einheimsen. Aber das geht in Ordnung, denn ohne Geld überlebt niemand auf diesem Planeten. Viel wichtiger ist, daß auch die Botschaft in Ordnung ist, jene Botschaft, die den Schleier abreißt, den der Plastik-Pop der Hitparaden ebenso über die Wirklichkeit legt wie in Britannien die gewaltige Show des Krönungsjubiläums.

Der Lack ist ab, der Punk Rock siegt

In England ist der Lack mittlerweile ab, und die Punk Rocker setzen gerade in diesen Wochen zum Sieg an. Und weil sie mit ihrem Zorn zu den Ursprüngen des Rock ’n‘ Roll zurückkehren, sind sie auch verdammt kreativ. Hinter der ersten Welle, die den herrschenden Popzirkus mit Brachialgewalt an die Wand spielen will, stehen schon die musikalisch konstruktiveren Gruppen – die Stranglers, Ultravox!, Television (TV kommt zwar aus New York, aber da sieht alles bekanntlich ja noch viel schlimmer aus als in London). Der Punk wandelt sich bereits, der Begriff ,New Wave‘ bürgert sich ein für eine breite musikalische Szene, die von Tom Petty bis zu den Damned reicht, von Graham Parker bis zu Blondie, von den Clash bis hin zu geistesverwandten farbigen Musikern, den Reggae-Leuten nämlich. So unterschiedlich die Musik auch klingt, die sie alle machen – gemeinsam haben sie eine äußerst große Ausstrahlung an unverbrauchter Energie, hypnotische Rhythmen, Vorbilder wie die Doors oder Velvet Underground und meist auch das Alter: so um die zwanzig. Der Rock erneuert sich, und das sollte niemand beunruhigen. Denn der Musikmarkt ist riesig, und die Pink Floyd, Genesis, die Beatles, die Eagles und die Stones werden auch weiterhin Platten verkaufen. Nur: Punk ist zuerst einmal Musik für Teens, ist – zumindest in England schon – der ureigene Rock einer nachgewachsenen Generation. Und die ist bei Ultravox! oder den Ramones sicher viel besser aufgehoben als bei Abba und den Bay City Rollers.