Pulp Fiction Auf Shakespeare Basis
Romeo und Julia ist mehr als ein Film - das Epos ist purer Pop
Wer hätte es sich noch vor einem halben Jahr träumen lassen, daß William Shakespeare 380 Jahre nach seinem Tod wieder so hip sein würde, daß man seinen Namen in einem Atemzug mit Tarantmo nennen darf, ohne daß es doof klingt? ‚Romeo und Julia‘, oder vielmehr, was der Australier Baz Luhrman aus der klassischen Liebestragödie gemacht hat, ist der Schlüssel zur neuen Popularität des Barden aus Stratford-Upon-Avon.
In den USA schoß seine hyperstilisierte Neuverfilmung über die verdammte Liebe der zwei Teenager im letzten Herbst an die Spitze der Kinocharts. 46 Milionen Dollar spielte der kunterbunte Pop-Art-Rausch ein. Damit ist er die erfolgreichste Shakespeare-Verfilmung überhaupt – direkt gefolgt von Franco Zeffirellis ‚Romeo und Julia‘ aus dem Jahr 1968. Die Wogen um den Film mögen sich geglättet haben, aber jetzt sorgt der Soundtrack für Furore: Bis auf Platz 3 der US-Billboard-Charts kletterte das kunterbunte Sammelsurium aus Alternative Rock, Dance, Industrial und allem, was sich dazwischen bewegt – selbst für Insider eine Überraschung. Denn dem Album gelang der Marsch in die Herzen der Fans und damit an die Spitze der Charts ohne handelsübliche Promotion, übermäßig offensive MTV-Werbung oder einen Videoclip, in dem Szenen des Films zu sehen sind. Noch nicht einmal mit kommerziell bewährten Namen konnte man aufwarten: Garbage, die gegenwärtig erfolgreichste aller Gruppen auf dem Soundtrack, hatten ihreigenes Album noch gar nicht veröffentlicht, als sie ihren Song für ‚Romeo & Julia‘ ablieferten.
Und doch ist es ‚#1 Crush‘, der die Dinge für die ‚Music from the Motion Picture 1 ins Rollen brachte. Auf der Suche nach neuem Garbage-Stoff von den amerikanischen Modem-Rock-Sendem entdeckt, landete die musikalisehe Annäherung an das Liebesleiden der jugendlichen Titelfiguren des Films schon bald auf Platz 1 ihrer Playlists. Der Schritt in den Mainstream folgte und der Crossover von zwei Szenen, die gerade in den Vereinigten Staaten für gewöhnlich wenig bis gar nichts miteinander zu tun haben-. Rock-Fans griffen zu wegen Everclear, Radiohead und den Butthole Surfers, während Dance-Begeisterte sich über Des‘ ree, Gavin Friday und Kym Mazelle freuten.
Der ungewöhnliche Abwechslungsreichtum der Titel ist programmatisch für Baz Luhrmanns gesamtes Projekt. Die Grundlage für den Erfolg legte der gefragte Opernregisseur mit seiner kompromißlosen Vision, die Saga von ‚Romeo und Julia‘ einem ganz neuen, jungen Publikum auf eine Weise zu präsentieren, die nahe geht und eine Reaktion geradezu erzwingt. Luhrmann, dem der Sprung nach Hollywood gleich mit seinem ersten Film ‚Strictly Ballroom‘ gelang, sprengte den Panzer der Ehrfrucht, der die jüngsten Shakespeare-Verfilmungen ‚Hamlet‘. ‚Richard III‘, ‚Viel Lärm um nichts‘, ‚Was Ihr wollt‘ und ‚Othello‘ zu bleischweren Kinoerlebnissen werden ließ. Indem er die bekannte Geschichte mit seinem untrüglichen Gespür für popkulturelle Referenzen, verrückte Einfälle und hyperstilisiertes Pathos, legte er zusätzlich ihre Allgemeingültigkeit frei: Die Story zweier junger Menschen, deren Liebe eine Rebellion gegen die Feindseligkeit um sie herum ist, ist in unserer Zeit aktueller denn je.
Es verwundert nicht, daß es ausgerechnet Shakespeares jüngstes Stück war, von dem Luhrmann magisch angezogen wurde. Schon Franco Zeffirelli hatte bei seiner Verfilmung vor knapp 30 Jahren erkannt, daß der Schlüssel zum Erfolg der Lovestory in der Jugend seiner Darsteller lag: Folglich besetzte er die Titelrollen mit zwei Teenagern, die sich zwar mit den Versen des Barden schwer taten, aber den Nerv des Publikums trafen. Luhrmann setzt bei seiner Adaptation auf ein noch größeres Risiko, indem er die Geschichte vom Verona des 17. Jahrhunderts in die Gegenwart verlegt. Er ist nicht der Erste: Robert Wises Musical-Klassiker ‚West Side Story‘ erzählte bereits den Zwist zweier Jugendgangs, ebenso wie Abel Ferrara im Jahr 1987 in seinem Ghetto-Drama ‚China Girl‘.
Luhrmann geht weiter, Lichtjahre weiter: Sein ‚Romeo und Julia‘ ist angesiedelt in einer pseudorealistischen Halbwelt, in der sich die heilige Fehde zwischen den Magnat-Familien Montague und Capulet auf die Kinder übertragen hat, die sich mit Designerwaffen blutige Kämpfe im überzogenen Stil von Spaghetti-Western liefern. Der Film ist wie ein Besuch auf einem Jahrmarkt voller Spiegelkabinette, Irrgärten und Freakshows. Und in dieser Welt, in der alles möglich scheint, ist es auch nicht falsch, den elisabethanischen Originaltext um die Ohren gehauen zu bekommen.
Ein mutiges, aber selbstbewußtes Va-Banque-Spiel, zugegeben, das leicht in die Hose hätte gehen können, wenn Luhrmanns Stars Leonardo DiCaprio und Ciaire Danes nicht so überzeugend wären. Auch ihre Wahl war pure Intuition: Obwohl von der Kritik schon lange als beste Schauspieler ihrer Generation gefeiert, konnten beide nicht jene Starpower aufweisen, die in Hollywood als Erfolgsgarantie gilt. Leonardos letzte Filme (‚Jim Carroll‘) waren allesamt Flops, Ciaire hatte bis dato noch nie eine Hauptrolle gespielt.
Jetzt wird Luhrmann gefeiert. Er hat einen Film geschaffen, der wie alle Kulthits mehr ist als nur ein Film. Er ist eine Einstellung. Den Soundtrack zu ‚Romeo und Julia’produzierte Nellee Hooper (u.a. Björk, U2, Madonna)