Pulp


Den gloriosen Moment des ohnehin schon gloriosen britischen Popjahres 1995 lieferte das Sommerfestival in Glastonbury: am Ende einer besonders euphorischen Version von Pulps Hit ‚Common People‘ trat Jarvis Cocker nochmal ans Mikrophon und zeigte ungewöhnlich viel Gefühl. Der ansonsten zundertrockene Sänger triefte förmlich vor Emotionen: „Thank you very much, and thanks for making this a very special night for us“, sagte er und trat ab. Da blieb bei den 100.000 Zuschauern kein Auge trocken, denn es war in der Tat ein bedeutungsschwangerer Moment: Siebzehn Jahre lang hatte kein Hahn nach den Provinz-Platten von Pulp aus Sheffield gekräht. Doch um 1993 herum avancierten sie plötzlich zu den Lieblingen der Studentenszene und konnten sogar ein paar Mini-Hits feiern. Mit ‚Common People‘ — einer schrägen Satire auf das Sex-Leben in der britischen Klassengesellschaft — war dann kurz vor dem Festival von Glastonbury der Sprung auf den obersten Charts-Gipfel geglückt.

Seither hat sich das Sextett mit der eigenartigen Fusion aus himmlisch-hymnischen Melodien, käsigen „Farfisa“-Orgel-Piepsem, saftigen Pseudo-Disco-Beats und bitterbösen Verbalattacken aufs englische Bürgerleben im Eiltempo zur Heldenkombo der Nation gemausert: Die Nachfolgesingle ‚Mis-Shapes‘ stürmte Englands Top-3, dem neuen Album ‚Different Class‘ ist bereits nach den zahllosen Vorbestellungen der erste Platz der britischen Bestenliste sicher. Logische Konsequenz: Pulps Show im Shepherd’s Bush Empire —- das erste Londoner Konzert seit dem Triumph von Glastonbury -— ist ein echtes Fest. Gefeiert wird nicht nur Pop-Historie pur, sondern auch die schöne Tatsache, daß hier endlich mal wieder der Beweis dafür vorliegt, daß sich Talent trotz MTV und Industriemolochen mit ein bißchen Durchhaltevermögen auch heute noch durchsetzen kann. Die hohen Erwartungen des Publikums werden dabei voll und ganz erfüllt: Pulp sind in der Tat großartig.

Während die Stücke ihres letzten Albums ‚His’n’Hers‘ mehrheitlich das Leid des Außenseiters mit Herzensbruch zelebrieren, behandeln die neuen Songs einen zusätzlichen Aspekt britischer Bürger-Realität: die Komplikationen des englischen „class systems“, mit denen sich ein Publikum von potentiellen Außenseitern natürlich bestens identifizieren kann. Pulp hören verbindet, und im Handumdrehen wird aus eben jenen „Outsiders“ eine wogende Masse von ekstatischen „Insiders“. Das geht schon mit dem ersten Song los: ‚Mis-Shapes‘, dem radiogenehmen Titel der aktuellen Hit-EP. Jarvis Cocker, der geborene Frontmann, wirft sich sogleich in eine halb parodistische, halb genüßliche Superstarpose — Fuß auf die Monitorbox gestellt, Augen verschwörerisch in die ersten Publikumsreihen gesenkt. Die Band — allen voran Orgel-Artistin Candida Doyle, aber auch Gitarrist und Geiger Russell Senior — fügt sich bestens ins schrulligglamouröse Bühnenbild ein. Und auch ihr Repertoire läßt keine Wünsche offen: Nach all den langen Jahren auf britischen Bühnen werden spritzige Frische mit professioneller Kaltschnäuzigkeit hervorragend kombiniert.

Höhepunkte markieren neben den Klassikern ‚Razzmatazz‘, ‚Do You Remember The First Time‘, ‚Have You Seen Her Lately‘ und ‚Babies‘ auch neue Titel —- ‚Sorted For E’s‘, ‚Disco 2000‘, ‚Underwear‘ und selbstverständlich ‚Common People‘. Der Eindruck trügt nicht: Pulps Auftritt im Shepherd’s Bush Empire besteht eigentlich nur aus Höhepunkten.