Pierre Henry


Der Pionier der Musique Concrète über die fünf wichtigsten Songs seines Lebens, seine Liebe zu Vogelgesang und Bikerfilmen und seine Abneigung gegen das Jagdhorn

Ich wollte Komponist werden, als ich zum ersten Mal dieses Stück hörte …

Johann Sebastian Bach

Messe in H-Moll (1749)

Diese Messe mochte ich sehr, als ich ein Kind war, und sie gab sicher den Impuls, später selbst musizieren zu wollen. Es ist eine unheimlich bewegende Interpretation der klassischen römischen Messe. Auch wenn ich sie mir heute anhöre, werde ich noch von meinen Gefühlen überwältigt, weil ich weiß, dass sie so großen Einfluss auf mich hatte, eigentlich immer noch hat. Alles, was ich mache, hat mit der Tatsache zu tun, dass ich damals anfing, der Welt zuzuhören. Ich liebe alle Musik. Nun gut, alle Musik außer dem Jagdhorn.

Die Möglichkeiten elektronischer Musik erkannte ich bei …

Frank Zappa

Weasels Ripped My Flesh (1970)

In den 70er-Jahren war Bernard Bonnier mein Assistenzkomponist. Er brachte mir einige Stücke von Frank Zappa näher. Es begeisterte mich, wie sie Free Jazz in musikalisch sehr komplexen Strukturen aufgehen ließen. Ich würde nicht sagen, dass Zappa mich damals beeinflusste. Aber er sorgte dafür, dass ich meine Denkweise über Musik änderte und bald darauf anfing, Elektronik auf eine andere Art und Weise einzusetzen als vorher.

Ich entwickelte Musique Concrète …

Olivier Messiaen

Trois Petites Liturgies de la PrÉsence Divine (1943 – 44)

Man kann wohl Pierre Schaeffer (Gründer des legendären RTF Electronic Studio, die Red.) als den Pionier der Musique Concrète bezeichnen. Seine Ideen und seine frühen Forschungsprojekte waren jedoch eher theoretischer Natur. Mein Ziel war es, sie weiterzuentwickeln und in die Realität umzusetzen. Die wahre Inspiration waren dabei die Klänge der Natur, die wir jeden Tag um uns herum hörten. Ich versuchte, diese Klänge nachzubilden. Dabei halfen mir die Vorlesungen des Komponisten Olivier Messiaen am Pariser Konservatorium. Seine Verwendung von Klangsprachen, vor allem die der Vogelgesänge, hat mich immer begeistert.

Ich empfinde tiefe Liebe zu …

Charles Aznavour

Tu T’Laisses Aller (1961)

Die stärksten Gefühle empfinde ich gegenüber Musik, die ich über Filme kennenlerne, etwa die Lieder von Charles Aznavour, die in den Werken von Jean-Luc Godard zu hören sind. Zum Beispiel in „Eine Frau ist eine Frau“. Zu nennen sind auch die Filme von Vincente Minnelli oder René Clair. Sie erzeugen einen Schauer der Gefühle in mir. Auch in Igor Strawinskis „Le Sacre du Printemps“ oder in die Sachen, die der blinde Komponist und Musiker Moondog aufnahm, bin ich verliebt. Aber in erster Linie immer in die Person, mit der ich mein Leben teile!

Die wichtigste Inspiration meines Lebens war …

Davie Allan and the Arrows (from „the Wild Angels“)

Blues Theme (1966)

Messe Pour Le Temps Present (Pierre Henrys legendärer, viel gesampelter elektronischer Soundtrack zu Maurice Béjarts Ballettstück, die Red.) wurde direkt von „The Wild Angels“ inspiriert, einem Motorradfilm von Roger Corman. Ich hatte die Vorstellung, dass die Atmosphäre seiner Bilder genau mit Béjarts Absichten korrespondieren könnte, als dieser mich fragte, ob ich nicht einige Stücke für ein Ballett schreiben wolle, das sich mit dem Nietzsche-Zitat „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde“ auseinandersetzt. Ein weiterer wichtiger Einfluss auf meine Kunst war übrigens immer mein Haus. 1996 war ich einige Abende lang Gastgeber: Ich gab Konzerte für etwa 50 Leute, die ich alle in verschiedenen Zimmern platzierte, die jeweils mit einer sehr aufwendigen Sound-Anlage ausgestattet waren. Ein schönes Experiment der Nähe, aus dem später das Stück „Interieur Exterieur“ wurde.

Randnotizen

* Der 1927 geborene Pierre Henry gilt als einer der Väter der Musique Concrète, einer Musikrichtung, deren Protagonisten ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts Klänge aus Natur, Technik und Umwelt aufnehmen und als Ausgangspunkt für Kompositionen nutzen.

* Die Verwendung klassischer Instrumente lehnte Pierre Henry ab. Eines seiner wichtigsten Werke, Symphonie pour un homme seul (1950), griff stattdessen ausschließlich auf Klänge des menschlichen Körpers zurück.

* Das 1964 veröffentlichte „Psyché Rock“ wurde zu einem richtigen Hit – und in den 90er-Jahren unter anderem von William Orbit und Fatboy Slim als Basis für Remixe genommen. Auch die Titelmelodie der US-Zeichentrickserie „Futurama“ bedient sich bei dem Klassiker.

* 1969 nahm Henry mit der amerikanischen Progressive-Rock-Band Spooky Tooth die Rock-Messe Ceremony auf. Auch mit den Violent Femmes arbeitete Henry zusammen, er agierte als Co-Produzent für das 2000 erschienene Freak Magnet.