Die Schwiegermütterlieblinge des Grunge: Pearl Jam liefern den ultimativen Soundtrack der Mittelmäßigkeit
Linus Volkmann verreißt Klassiker der Pop- und Rockgeschichte. Heute trifft es das 14-fach mit Platin ausgezeichnete zweite Studioalbum der Grunge-Veteranen Pearl Jam, in Wahrheit aber die Band als solche. Und Julia Lorenz steht ihm mit dieser Meinung auch noch zur Seite!
Seit Anfang 2019 schmeißt unser Autor Linus Volkmann eine Popkolumne bei uns, in der er im Wechsel mit Julia Lorenz regelmäßig auf die jeweils zurückliegende Popwoche blickt. Eine der darin auftauchenden Kategorien heißt „Verhasster Klassiker“, und man raunt sich im Internet zu, dass sich die Kolumne schon (oder wahlweise nur) wegen dieses Rants gegen Platten, die angeblich jeder mag, jede Woche aufs Neue lohne. Und sei es nur, um Linus zu beleidigen!
Als Services des Hauses stellen wir die „Verhassten Klassiker“ nachträglich auch einzeln heraus. Ihr ärgert Euch doch immer so gerne/schön über Linus, seine Auswahl und seine „Argumente“! Es folgt eine Doppelfolge: Nicht nur Linus Volkmann kann der Rockband Pearl Jam, die 2020 wieder auf Welttournee geht und auch nach Deutschland kommt, nur wenig abgewinnen. Auch unsere Kolumnistin Julia Lorenz widmete sich Eddie Vedder und Co., und das nicht etwa für ihre Rubrik „Verkannte Kunst“, sondern ebenfalls für eine Übernahme von Linus‘ „Verhasster Klassiker“-Rubrik. Wir schwören: Abgesprochen haben sie sich nicht. Sonst wäre diese Dopplung ja auch nicht passiert!
DER VERHASSTE KLASSIKER: Pearl Jam
Linus Volkmann über Pearl Jam: Wie Greta Thunberg mit Bart – Pearl Jam sind das gute Gewissen des Rocks
Pearl Jam
„Vs.“
(VÖ 19.10.1993)
Mein Gott, Grunge hatte gerade erst angesetzt, die muffigen Mainstream-Hallen der Rock-Ödnis mal so richtig durchzulüften, da wehte mit Pearl Jam quasi schon wieder die Antithese zu jenem Vorhaben herein. Ich meine, seid doch mal ehrlich: Wenn man den Namen Eddie Vedder hört, denkt man ganz unwillkürlich Dinge wie „Gemeinschaftskunde-Test“, „Mal wieder hinter dem Kühlschrank wischen“ oder auch „Man muss nicht jedes Gericht in Würze ertränken, damit es schmeckt“.
Pearl Jam, das ist der ultimative Soundtrack der Mittelmäßigkeit. „Vs.“, das ist die Platte, die man sich anhört, wenn man vor der Entscheidung steht, welches Braun die neuen Sandalen haben sollen, die man sich bei C&A zulegen möchte. Der nächste Sommer kommt bestimmt!
Eddie Vedder stellt zudem das gute Gewissen des Rocks dar – und kommt einem dabei vor wie eine Greta Thunberg, die sich einen Bart und verwaschene Oversized-Klamotten umgehängt hat.
Das alles mag seine Berechtigung haben, aber ich bin ja Musikkritiker und nicht bei der Caritas. Wenn jemand Pearl Jam auflegt, ziehe ich die Brille mit den aufgemalten Augen an, die Homer Simpson beim Jury-Dienst nutzt, um ein Nickerchen zu machen. Hey, das ist nicht despektierlich gemeint – sondern sicher ganz im Sinne der Band. Denn die hat es ja nicht mal geschafft, mit einem Knall aufzuhören, sondern lebt seit Jahrzehnten den unspektakulärsten Fadeout im Showbiz. Ein Fadeout, bei dem man höchstens mal wieder kurz erschrickt, wenn Eddie Vedder doch noch mal an die Tafel geht und einem irgendwas Wertvolles mitteilen möchte.
Schnell die Brille auf, dann geht’s bald wieder vorbei.
– Linus Volkmann („Musikjournalist“)
Dieser Rant erschien zuerst in Folge 34 von Linus Volkmanns Popkolumne:
Julia Lorenz über Pearl Jam: Pearl Jam, das sind die Schwiegermutterlieblinge des Grunge
Nachdem Kollege Volkmann in der vorherigen Popkolumne meine Rubrik „Verkannte Kunst” gekapert und ein Plädoyer für Kelly Osbourne gehalten hat, gibt es von mir nun endlich auch mal hier: HASS. Und zwar für eine Band, gegen die man eigentlich nichts haben kann, eigentlich nichts haben darf, weil sie wirkt, als könnte man alle ihre Mitglieder zu jeder Tages- und Nachtzeit wecken, um nach einem Bier oder einem Achtkantschlüssel zu fragen; weil sie nicht nur eine „spitzenmäßige Live-Combo” (Melodie & Rhythmus) ist, sondern auch „große Gefühle und harte Riffs verbindet” (Apotheken-Umschau): Pearl Jam, die Schwiegermutterlieblinge des Grunge. Die Pathosflegel, die immer ein bisschen aussehen wie die Jungs in der Schule, die zurückgelehnt und mit verschränkten Armen mit dem Ethiklehrer diskutiert haben, und mit Melodien, die so groß, mächtig und bedeutungsschwer auf einen zurollen, dass man sich unter ihnen wegducken will, um sich heimlich mit den Schmuddelkindern in die Raucherecke zu verziehen.
Ich habe als Teenager ungefähr sechs Wochen lang versucht, ihr „Magnum Opus” (Bild der Frau) TEN zu mögen, den albernen Feuerzeuge-Raus-Refrain von „Alive” erhebend zu finden; von Eddie Vedders Versuch, im Opener „Once” Worte wie schmauchende Fetzen klingen zu lassen, ebenso mitgerissen zu werden wie von Kurt Cobains Keifen – aber es hörte sich nur an wie Brunftschreie aus einem ungelüfteten Jugendzimmer. Irgendwer hat mal geschrieben, Pearl Jam seien eine Band wie ein großer Bruder. Ich wollte immer Einzelkind sein.
ME-Redakteur Fabian Soethof ist da übrigens anderer Meinung als Linus und Julia:
Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte von Linus Volkmann und Julia Lorenz im Überblick.