Pearl Jam: Fünf Freunde gegen das System
Sie sind eine der größten Bands der 90er Jahre -obwohl oder gerade weil sie sich den Mechanismen der Musikindustrie konsequent verweigern. Pearl Jam pflegen ihr Image als alternative Anti-Stars und teilen sich nur über ein einziges Medium mit: ihre Musik. So auch beim Auftakt ihrer '96Tournee, die sie Anfang November nach Deutschland führen wird. ME/Sounds sahen sich das Heimspiel in Seattle schon mal an.
„Diese Jungs waren mal bei Green River und Mother Love Bone. Gebt ihnen ’ne Chance“, lautet die ironische Aufschrift auf dem Schildchen, das man im ‚Sub Pop Mega Mart‘ neben Pearl Jams neues Album „No Code‘ gestellt hat. Der wohnzimmergroße Laden an Seattles 2nd Avenue hat nur ein paar Vinyl-Ausgaben von „No Code‘ angeschafft, den großen Abverkauf des Megasellers überläßt man den riesigen Stores. Er findet die Band an sich ganz okay, meint Steve, der blasse Knabe hinterm Ladentisch, das neue Album hat er aber noch gar nicht gehört. Das einzige, was ihn im Zusammenhang mit dem morgigen Start der Pearl Jam-Tournee interessiert, ist, daß die Fastbacks das Vorprogramm bestreiten werden – „die sind nämlich eine Sub Pop-Band!“ Sub Pop, das Indie-Label, das zu Zeiten des ungeliebten „Sound Of Seattle“-Hype zum hippsten des Planeten ausgerufen wurde und das seither, froh über das Nachlassen der Hysterie, wieder kleinere Brötchen backt. Klar, daß man hier keine vor Pearl Jam-Begeisterung fiebernden Menschen vorfindet. Doch auch die Szene-Magazine der Stadt wie ‚The Stranger‘ oder ‚The Rocket‘ schweigen sich aus über das Großereignis am morgigen Abend, immerhin der Start von Pearl Jams erster Tournee nach fast einem Jahr. Immerhin sind Pearl Jam eine der größten Bands der Welt und immerhin stammen Pearl Jam aus dieser Stadt. Kollektives Desinteresse von Seiten der „Szene“ also? Eher routinierte Reaktion auf ein Massen-Phänomen, das von Anfang an die Grenzen dieser beschaulichen Stadt gesprengt hat. Pearl )am spielen in Seattle – der Heimspielcharakter dieses Events wird hier denkbar gering bewertet. Das liegt wohl auch an der generellen Neigung in dieser Stadt, „seinen Stars“ ihren Freiraum zuzugestehen, in stiller, verständnisvoller Übereinkunft, sie hier „Mensch sein“ zu lassen. „Es kann schon passieren, daß du ins Crocodile Cafe gehst, und neben dir schlürft ganz in Ruhe Jeff Ament seinen Cappuccino“. erzählt Mark Bergstrasser. Mark ist Berliner, seit vier Jahren lebt er hier in Seattle, weil er „eine Stadt mit ähnlicher Atmosphäre“ suchte, und ist jetzt gerade dabei, eine kleine Live-Musik-Kneipe ins Rollen zu bringen. „Wenn Eddie Vedder hier über den Broadway spazieren würde, es würde sich wohl keine Menschentraube bilden. Neulich kam mir oben auf Capitol Hill plötzlich Peter Buck von R.E.M., der ja auch hier wohnt, entgegen. Als alter Fan war ich schon drauf und dran, ihn anzuquatschen – aber das wäre hier einfach nicht cool.“
Der ideale Ort, so scheints, für den scheuen Eddie Vedder. Bereits im Alter von 15 Jahren verließ Vedder sein zerrüttetes Elternhaus, um in San Diego auf sich allein gestellt sein Leben in den Griff zu bekommen. Daran drohte der hypersensible Hobbymusiker bald zu scheitern. Weil er der Doppelbelastung Arbeit/Schule nicht gewachsen war, mußte er die High School aufgeben. Völlig aus der Bahn warf ihn dazu die Erkenntnis, daß der verhaßte Vater, mit dem er aufgewachsen war, in Wirklichkeit sein Stiefvater war, zu einem Zeitpunkt, als sein wahrer Vater gerade gestorben war. Verhärmt mit Haß auf seine Umwelt und auf dem besten Weg, völlig in der Versenkung zu verschwinden, verrichtete Vedder Jobs als Drugstore-Angestellter und Tankwart. Sein Heil suchte der fanatische Musikfan in der Rockmusik. Auf die Frage, ob er als Jugendlicher großen Stimmungsschwankungen unterworfen gewesen sei, antwortete Vedder in seinem letzten großen Interview dem US-Magazin SPIN: „Wenn schon keine Stimmungsschwankungen, dann aus dem Grund, weil ich eigentlich immer down war. Das einzige, was damals wirklich positiv auf mich gewirkt hat, war, wenn ich eine Band, die ich mochte, live sehen konnte. Danach war ich dann ein paar Tage gut drauf.
Ironie des Schicksals, daß es heute gerade die Musik ist, die Vedder in seiner ungeliebten Rolle als „Rockstar“ so offensichtlich viel Seelenpein bereitet. Seine Unfähigkeit – oder der Unwille -, im Licht der Öffentlichkeit, in das ihn der überwältigende Erfolg von Pearl Jam gerückt hat, zum coolen Showman zu mutieren oder seine Unsicherheit mit Zynismus zu überspielen, brachten ihm über die Jahre von Medienseite Schmähungen als Winsel-Eddie, der Verkörperung des weinerlichen Alternative-Rock ein. Im Gegenzug betreiben Vedder und die Band seit Jahren einen systematischen Rückzug vom Medienbetrieb, der einhergeht mit konsequenter Absage an die Mechanismen des Rockbusiness. Schon zum dritten Album ‚Vitalogy‘ gab es 1994 so gut wie keine Promotion-Aktivitäten mehr, Vedder hat seit fast zwei Jahren kein längeres Interview mehr gegeben, die anderen Bandmitglieder äussern sich in seltenen – Gesprächen fast ausschließlich zu ihren Nebenprojekten.
Aktuelle Bandfotos gibt es nur von Livekonzerten. Bereits seit dem zweiten Album ‚Vs.‘ (1993) liefert die Band keine Videos zu ihren Songs mehr ab, was in den multimedialen 90er Jahren einen beachtlichen Stinkefinger in Richtung Musikindustrie darstellt.
Diese für Bands solcher Größe und Bedeutung beispiellose Verweigerungshaltung ließ die mit Spekulationen alleingelassene Presse immer wieder die Frage aufwerfen, wie lange Pearl Jam mit ihrem derart ungefestigten und mit Problemen kämpfenden Sänger eigentlich noch lebensfähig sei. Was der Sache nicht hilft, ist die Launenhaftigkeit des Stars Vedder, der schon in der Vergangenheit oft laut übers Aufhören nachgedacht hatte. Auch lassen die Stimmen aus der Umgebung der Band nicht nach, daß eine so produktive Band wie Pearl Jam wohl irgendwann einmal ausbrennen würde. Umso gespannter wurde das neue Album ‚No Code‘ erwartet. Damit – allerorten als ihr bisher bestes und reifstes gefeiert stellten Vedder, Jeff Ament, Stone Gossard, Mike McCready und ihr neuer Drummer Jack Irons jetzt eindrucksvoll klar, daß sie zumindest musikalisch alles andere als am Ende sind.
Doch all die Spekulationen scheren hier vor der Key Arena in Seattle keinen. Die Leute hier müssen nicht erst überzeugt werden, Pearl Jam ist IHRE Band, Eddie Vedder fast so etwas wie ihr Messias. Letzteres könnte man zumindest von denjenigen vermuten, die ganz vorne in der schier unendlich langen Schlange sitzen, die sich an diesem sonnigen Montag-Nachmittag auf dem Gelände vor der Basketball-Arena gebildet hat – und immer noch wächst. Die Beinharten unter ihnen harren schon seit den frühen Morgenstunden auf dem betonierten Weg aus, um sich beim Einlaß um 19 Uhr einen Platz möglichst nah an der Bühne zu sichern. MTV ist da, eine Menschentraube um das Kamerateam überbietet sich darin, anzugeben, wie weit man für den großen Abend angereist sei. Einige wenige Glückspilze waren am Samstag beim nur eine halbe Stunde vorher angekündigten Warm-Up-Gig von Pearl Jam im 500 Leute fassenden Showbox-Club. Andere mit weniger Schwein haben nicht einmal Tickets für die große Show heute. In nur sechs Minuten waren die knapp 14.000 Plätze der Key Arena ausverkauft. Da ging mancher leer aus – nur wenige sehen die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage nicht ein und wandern mit „Need Tickets“-Schildern die Warteschlange ab.
20 Uhr. Die Halle füllt sich nur langsam, jeder Besucher muß sich am Eingang einer Kontrolle unterziehen (Merket auf, Bootleg-Fans: das Mitbringen von kleinen Tonbandgeräten wurde von der Band ausdrücklich zugelassen, auch bei den Konzerten in Deutschland wird das Mitschneiden erlaubt sein). Die Lichter erlöschen und die Fastbacks gehen ihren Part als Support-Act an. Zwar wird gejubelt, doch objektiv betrachtet bietet der leidlich strukturfreie Trash-Punk-Pop der Seattler Lokalmatadoren wenig Anlaß zur Begeisterung. Fast verflucht man ein wenig Eddie Vedder, denn auch hier hatte der gute Mensch von Pearl Jam seine Finger im Spiel: die Fastbacks sind eine befreundete Band, der als Support der Pearl Jam-Tournee die Chance zum Durchbruch gegeben werden soll. Ein mit Fernglas bewaffneter US-Kollege behauptet, man könne Vedder im seitlichen Backstage-Bereich zufrieden zugucken sehen. Da zieht’s so manchen schon eher raus an den Hot Dog-Stand, wo es auf TV-Schirmen das Spiel der Seattle Mariners gegen die Texas Rangers zu verfolgen gibt. Doch während einige mit ihren Kids angereiste Väter noch schön geschlagene Base-Bälle beklatschen, brandet drinnen in der Halte Jubel von einem anderen Format auf: Pearl Jam sind da, zum ersten großen Heimspiel seit nahezu drei Jahren. Der Auftakt ist stimmungsvoll: Im Licht einer gigantischen Spiegelkugel erklingt das meditativ-verhaltene ‚Long Road‘ von der ’95er ‚Merkinball‘-Single, bevor zum Doppelpack ‚Hai! Hail‘ und ‚Who You Are‘ unten in der Arena endgültig die Mosh-Hölle losbricht, unzählige Crowd-Surfer machen den Luftraum vor der Bühne unsicher. „There’s no place like home“, brummt Vedder zur Begrüßung mit tiefer, dunkler Sprechstimme, die ihn noch erwachsener wirken läßt, als der fast 32jährige im Verhältnis zu seinem jungen Publikum ohnehin ist.
Bei gut zwei Dritteln der Songs spielt Vedder neuerdings Gitarre, als suchte der einst fast isoliert leidende Sanges-Frontmann mehr Einbindung in die Band. Der schonungslose Bühnen-Seelenstriptease früherer Tage scheint einer kraftvollen, routinierten, trotzdem intensiven Performance gewichen zu sein. Sonst hat sich wenig geändert: Bassist Jeff Ament wirkt noch immer als verbindendes Element der Gruppe, wie er rastlos auf der geschmackvoll von einem überdimensionalen Quasi-Kronleuchter und Kerzen ausgeleuchteten Bühne herumwetzt, Stone Gossard serviert seine Riffs immer noch mit dem Charisma eines Buchhalters und der neuerdings erblondete Mike McCready neigt nach wie vor zu Gewalttätigkeiten gegenüber seinem Instrument fast fällt ein Roadie einem halsbrecherischen Gitarrenwurf zum Opfer.
Knappe zwei Stunden lang schöpft man aus dem Vollen: zornige Rocker, die Pearl Jam-typischen elegischen Hymnen, deutlich von Übervater Neil Young inspirierte Dröhner. Der Computer, auf dem man mühsam die Setlist erstellt hatte, sei abgestürzt, so Eddie Vedder, drum spiele man jetzt einfach, was die Leute hören wollten. Die sind für alles dankbar; obwohl in der Key Arena absolutes Rauchverbot herrscht, sieht man in der Dunkelheit da und dort Gluten aufleuchten wohl nicht ausschließlich legale Kräuter, die da in Rauch aufgehen. Vergeblich hofft man auf Coverversionen, gewöhnlich eine Spezialität der Band, und illustre Gastmusiker – die man ja ob der in Seattle ansässigen befreundeten Prominenz hätte erwarten können. Statt dessen geht der Hauptset mit ‚Alive‘ in ein fast filmreifes Finale: ein erschöpfter Fan hat sich auf die Bühne gekämpft, da liegt er nun, dekorativ ausgelaugt, zwischen seinen Helden, bis ihm Vedder auf die Beine hilft. Sekundenlang liegt man sich in den Armen, dann legt der Bursche unter ohrenbetäubendem Jubel und McCreadys finalem Gitarrensolo einen formvollendeten Hechtsprung von der Bühne hin. Sehr prätentiös, das alles, aber in der Wirkung für den Moment perfekt. Später kommt die Band noch für zwei Zugaben-Sets zurück, Stone Gossard kommt mit dem selbstverfaßten ‚Mankind‘ als Sänger zum Zug, Höhepunkte stellen sich aber keine mehr ein. „Wir kommen wieder im Dezember“, verspricht Eddie Vedder. Dann sollten Pearl Jam auch ihre beiden Deutschland-Gigs – die ersten in vier Jahren – hinter sich haben. Wenn nicht irgendjemands Stimmungsschwankungen den deutschen Fans einen Strich durch die Rechnung machen. Doch daran darf man nach der heutigen Demonstration ausgeruhten Selbstbewußtseins getrost zweifeln.