Pearl Jam


Nach den Millionenverkäufen ihres letzten Albums "Vs." wurde es relativ ruhig um die lauten Stars aus Seattle. Doch hinter den Kulissen brodelt es kräftig, Drummer Dave Abruzzese ist gefeuert Als seinen Nachfolger präsentiert die Gerüchteküche derweil Dave Grohl von Ntrvana. Kommt es am Ende zum Schulterschluß der Grunge-Giganten? Sicher ist: Mit 'Vitalogy' soll noch im November eine neue CD von Pearl lam in den Regalen plaziert werden

Ortstermin Cellophane Square. Der wichtigste Plattenladen in Seattle, mitten im Uni-Viertel. Langsam wird es kühler in der Stadt, und immer öfter zieht Regen vom Mount Rainier an den Puget-Sund herüber. Man schlendert jetzt öfter durch die Markthallen am Hafen, trinkt dort den besten Capuccino der Westcoast, die Snowboarder holen schon mal ihre Bretter vom Dachboden, die Basketballer von den Seattle Supersonics trainieren bereits für die kommende Saison – und man wartet auf die neue Pearl Jam-LP. Der kometenhafte Aufstieg zu Superstars hat der Band in ihrer Heimatstadt nicht geschadet. „Sie sind immer noch sehr, sehr beliebt hier“, sagt jeder, den man fragt. Und der Grund? „Alle sind auf dem Teppich geblieben“, heißt es. „Die Jungs von Pearl Jam sind ganz normale Leute mit ganz normalen Problemen.“ Trotz 18 Millionen verkaufter Alben, TV- und Radioeinsätzen rauf und runter, Titelstories, trotz Fanpost waschkorbweise und kreischender Teenies bei den Konzerten. An der Wand des Platten-Shops: die College- und, viel wichtiger, die Cellophane-Square-Charts. Auf Platz eins: Scy Cries Mary, eine Seattle-Band, gefolgt von Offspring und Green Day. Auf den Plätzen: Nine Inch Nails, Soundgarden und, immernoch, Nirvana. Aber wo sind Pearl Jam? Im Studio. Sie testen neue Drummer und geben nicht das klitzekleinste Interview. Die neue LP steht vor der Veröffentlichung, und das heißt: Geheimhaltungsstufe 1. Das einzige, was nach außen dringt: Die neue Platte soll den Titel ‚Vitalogy‘ tragen. Die Plattenfirma verweigert jede Aussage. Würde jetzt eine Cessna vor Eddie Vedders Haus abstürzen, wie Mitte September vor Bill Clintons Schlafzimmer in Washington, wahrscheinlich würde sich herausstellen, daß Sony Music und das Management ringsherum Flugabwehrraketen stationiert haben, um anhängliche Fans und neugierige Journalisten abzuwehren. Wird Dave Grohl von Nirvana neuer Schlagzeuger bei Pearl Jam? „Wir wollen das nicht ausschließen“, sagt das Management. „Ich glaube nicht“, orakelt Chris Cross vom ‚Rocket‘, einem lokalen Musikmagazin mit besten Kontakten zur Szene. „Grohl paßt von seiner Persönlichkeit her nicht in die Band, und das ist ja auch Dave Abruzzese zum Verhängnis geworden.“ Im offiziellen Statement der Band heißt es ebenso musikbürokratisch wie lakonisch, die Trennung sei in „Freundschaft und gegenseitigem Einvernehmen“ erfolgt. Abruzzese selbst wird da schon deutlicher: „Am 9. August hat mich Stone Gossard gefeuert. Diese Entscheidung war nicht einvernehmlich, aber ich werde damit schon zurechtkommen.“ Ob er jetzt das große Pearl-Jam-Tattoo auf seinem Arm entfernen lassen wird?.

Zurück ins Jahr 1988: Die lokalen Musiklieblinge Green River haben sich nach drei Alben gerade in Mudhoney und Mother Love Bone aufgespalten. Beide gelten als DIE Bringer in Seattle. Als Wegbereiter einer Musikbewegung, die sehr bald ihren kommerziellen Siegeszug in alle Industrieländer der westlichen Welt antreten wird. Die Musikjournalisten finden schnell einen Namen: Grunge. Zwei Mother Love Bone-Veröffentlichungen und zwei )ahre später: Sänger Andrew Wood stirbt an einer Überdosis Heroin. Einmal mehr stehen Gitarrist Stone Gossard und Bassist Jeff Ament alleine da. Sie nehmen zusammen mit Mitgliedern von Soundgarden unter dem Namen Temple Of The Dog eine LP auf und suchen Leute für eine neue Band. Zu dieser Zeit treibt sich ein Bursche namens Eddie Vedder auf der anderen, der südlichsten Seite der US-Westcoast herum. In San Diego. Er arbeitet als Roady in verschiedenen Clubs und singt ebenso hartnäckig wie erfolglos in irgendwelchen Bands namens The Butts oder Bad Radio. Jack Irons, der bald darauf als Schlagzeuger der Red Hot Chili Peppers von sich reden machen wird, gibt ihm den Tip: „Geh nach Seattle. Da suchen gute Leute einen Sänger wie dich.“ Gossard und Ament haben inzwischen Mike McCreedy, einen alten Schulfreund Stones, als Co-Gitarristen und Dave Krusen (später ersetzt durch Dave Abruzzese) als Drummer verpflichtet. Eddy stößt zu ihnen, und sechs Tage später steht das erste Demotape. Jeff Ament zum briti-Q-Magazin: „Wir hatten den Tod von Andy immer noch nicht

ganz verdaut und hofften nur, daß es jetzt einigermaßen weitergehen würde. Und dann kam Eddie, und die ersten Songs, die er schrieb, waren ‚Alive‘ und ‚Once‘. Die gingen genau in diese traurige, zugleich hoffnungslose wie hoffnungsvolle Gefühlsecke, in der Stone und ich uns gerade befanden. Man muß dazu wissen, daß Mother Love Bone ja eigentlich eine fröhliche Rockband gewesen war. Nun stieß also Eddie zu uns, und alles, seine Songs und seine Art, paßte genau.“ Vedder hatte aus San Diego nicht nur seine Stimme und seine Songs mitgebracht, sondern auch seine Begeisterung für Basketball. Das erste Demo wird unter dem Namen Mookie Blaylok eingereicht. So heißt der einstige Star der New Jersey Nets. (Man stelle sich vor, eine deutsche Band würde sich unter dem Namen Icke Häßler um einen Plattenvertrag bewerben.) Das Management überzeugt die Band, sich umzubenennen. Ergebnis: Pearl )am. Ganz können sie aber nicht von Mooky Blaylock lassen. Ihre erste LP trägt als Titel die Rückennummer des Basketballers: ‚Ten‘. Der Rest ist Geschichte. ‚Ten‘ verkauft sich bis heute weltweit acht Millionen Mal. Das US-Musikmagazin ‚Spin‘ kürt Pearl Jam zu den Aufsteigern des Jahres 1992. Ein Jahr danach findet sich der 26jährige Vedder endgültig im US-Rockolymp wieder: Er säuft mit Bob Dylan in einer New Yorker Bar, darf seinem Idol Neil Young die Hand schütteln. Nikki Sixx von Mötley Crüe sagt: „Ein Gig von Pearl Jam ist wie ein Konzert der Doors.“ Vedders Popularität ist so groß, daß er sich während der Tour nur noch mit Maske auf die Straße traut, um nicht erkannt zu werden. Mit der selbsterklärten Medienfeindlichkeit ist es jedoch vorbei: Eddie wettert zwar gegen MTV, nimmt aber persönlich 1993 fünf Auszeichnungen des Musikkanals entgegen. Das Tüpfelchen auf dem Karriere-i: Eine Filmrolle in dem Streifen ‚Singles‘. Je populärer die Band wird, desto spärlicher fließen die Informationen über die Mitglieder. Von Vedders Vorleben ist nur so viel bekannt, daß er ohne Vater aufwuchs, in seiner Jugend Jackson 5 und The Who hörte, von der High School flog und sich alles, was er kann, selbst beigebracht hat.

Herbst 1993: Das neue Album erscheint. ‚Vs.‘ schießt an die Spitze der Charts. Weltweit kaufen über zehn Millionen Menschen das Werk. Eddie Vedder wird die Geister, die er rief, nicht mehr los. Berge von Fanpost erreichen ihn. Die Kids hoffen, daß er ihre Probleme löst. In einem ME/Sounds-Interview sagt er dazu: „Sie können all die Stärke, die sie brauchen, aus der Musik ziehen. Wie ich. Ich kann nichts für sie tun. Ich komm‘ doch kaum mit mir selbst klar.“ Bei dem ganzen Rummel um Eddie Superstar treten die anderen Bandmitglieder etwas in den Hintergrund. Stone Gossard meint dazu nur: „Es ist schon klar, Eddie ist unser gefühlsmäßiger Leader. Aber er braucht die Band ebenso, wie die Band ihn braucht.“ Den größten Rückhalt findet Vedder bei Beth Liebling. Zehn Jahre ist er mit ihr zusammen. Im Juni ’94 heiraten sie, im engsten Freundeskreis, in Rom. Eddie erscheint in piekfeinem Anzug, die Braut trägt Weiß. Beth ist auch ein neuer Pearl Jam-Song gewidmet: ‚Already In Love‘. Ein weiteres neues Stück (‚Not For You‘) stellt die Band Ende April im US-Fernsehen vor. Seitdem läuft es als Raubkopie bei den College-Radios rauf und runter.

Herbst 1994: die Grungerock-Generation steht vor den Trummern ihres Idealismus: Die Musikindustrie hat ihren Sound, der Modemarkt ihre Kleidung längst gewinnbringend demokratisiert. Und als hätte die Szene nicht schon genug Drogentote, erschießt sich am 8. April Kurt Cobain, die Ikone der Bewegung. Vedder ist tief geschockt. Und zwar nicht nur über die Häme, die sich posthum über den Sänger von Nirvana ergießt. Der Selbstmord Cobains verstärkt seine eigene Angst vor dem imaginären Würgegriff des Rock-Star-Daseins. Hinzu kommt, daß er und die anderen die Macht des Kommerz immer deutlicher zu spüren bekommen. Auf der US-Tournee fordert Vedder von den Veranstaltern, daß der Eintritt nicht mehr als 18 Dollar kosten solle. Der mächtige Verband der US-Konzertpromoter und der Kartenverkaufs-Gigant ‚Ticketmaster‘ reagieren prompt: Örtliche Veranstalter werden aufgefordert, Pearl Jam nicht mehr zu buchen. Die Band muß ihre Tournee abbrechen. Das vorläufig letzte Konzert geben Pearl Jam Ende April im New Yorker Paramount Theater – ein „geheimer Auftritt für geladene Gäste. Der Abend steht ganz im Zeichen von Kurt Cobain. „Kurts Tod hat alles verändert. Ich weiß nicht, ob ich weitermachen kann“, sagt Eddie. Dennoch spielen Pearl Jam an diesem Abend ihr gesamtes Repertoire. Viele Songs in bis dahin nicht gehörten Versionen. Zudem stimmen die fünf auf der Bühne immer wieder Titel von Neil Young an. Vedder singt sich fast die Seele aus dem Hals. Und Allan Jones, ein Reporter des ‚Melody Maker‘, ist begeistert: „Wir befinden uns hier in einem unerforschten Territorium, für das der Superlativ erst noch erfunden werden muß.“ Nichtsdestotrotz kündigt Vedder nach diesem Gig an, daß die Band nie wieder live spielen wird. Doch in Seattle weiß man es in diesen Tagen besser: Für das kommende Frühjahr ist eine neue Tour geplant. Unklar ist jedoch, ob Vedder bis dahin wieder bereit ist, sich dem zu erwartenden Medienrummel zu stellen. „Ich mache gerade eine schwierige Phase durch“, sagte er unlängst in New York. „Ich weiß nicht, wie wir die vergangenen Wochen überstanden haben. Es ist so verdammt hart, Mann, so verdammt hart.“ )a ja, sie sind schon zu bedauern, unsere armen, armen Rockstars. Aber wie dem auch sei. Vedder lebt in Seattle. Und dort ist er unter Freunden. In den Cellophane-Square-Charts wird sich sein neues Album sofort an die Spitze setzen, und am Hafen bekommt er den besten Capuccino der ganzen Westküste.