800. MUSIKEXPRESS-Ausgabe

Pauls Jets: Wie Paul Buschneggs Kindheit ihn zu Tocotronic führte


Von Lego-„Star Wars“ über Indie statt HipHop erst zu Nirvana, dann zu Tocotronic: Für unsere 800. Musikexpress-Ausgabe hat sich Paul Buschnegg, heute 26-jähriger Sänger der Wiener Band Pauls Jets, an seine Kindheit erinnert. Hier die ungekürzte Version seines poetischen Textes.

„Ich möchte unsterblich sein” flüstert Patrick mit aufgeregter Stimme. Sein Haar ist dunkel, fettig, lang und er trägt es im Prinz-Eisenherz Schnitt. Jeans hat er an, schwarz und aus dickem Stoff, wie immer, obwohl es Sommer ist und nur heiß und sie haben ein Loch am Knie. Darunter blitzt sein Schienbein hervor, auf dem bereits einige dunkle Haare sprießen. Ich sehe das, bin etwas abgelenkt davon, räuspere mich schließlich und sage: “Hmm. Also gut.” Es sollte eigentlich feierlich sein, aber es gelingt mir nicht. Ich fühle mich auf einmal seltsam müde und starre lange auf den Sith-Lord in Patricks Hand.

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Wir sitzen am Boden im Schatten des Eingangs – Um uns herum, die Wohnhausanlage. Es ist ein Tag irgendwann im August. Da ist Efeu, Eidechsen flitzen herum und die blecherne Lüftung der Tiefgarage, die, einem Alien-Tempel gleich, aus den Büschen ragt, wacht erhaben über uns. Inmitten dessen, im Schatten des Eingangs, liegt unsere Welt: Jedi-Ritter, Raumschiffe, Piraten, fliegende Festungen, lauernde Gefahren, zu erbeutende Schätze; ein Universum aus Lego, das wir jeden Tag neu aufbauen. Manchmal kommen Erwachsene vorbei und winken uns. Sie winken in eine andere Welt. Noah, Nils und Benni sind bereits seit Stunden weg. Ich bin alleine mit Patrick und heute bin ausnahmsweise einmal ich für die Leitung des Spiels zuständig, sprich, ich bestimme was geht und was nicht geht. Patrick spielt es ausgezeichnet, sein Sith Lord ist fast unbesiegbar. Seit ein paar Wochen ist er auf der Suche nach dem Elixier der Unsterblichkeit. Nun hat er es und das Spiel ist aus, vorbei, für immer, aber das wissen wir jetzt noch nicht.

Später liege ich zuhause am Teppichboden, von der Langeweile völlig verstrahlt, es läuft Nirvanas NEVERMIND. Durch das offene Fenster weht ein Windhauch, es riecht nach verdorrten Früchten, Asphalt und ein paar müde Bienen summen. Ich ziehe mir die Sandalen an, trage eine kurze Hose von Nike und eine Sportjacke, in den Taschen ist nichts. Jetzt verlasse ich die Anlage, überquere die Straße und betrete das Einkaufszentrum Galleria.

Viele Leute meinen die Kindheit ist so etwas wie eine schöne Zeit. Es ist aber überhaupt keine Zeit. Jedenfalls gibt es keine Zeit als Kind. Alles vergeht so langsam, plastilinartig und jede Woche ist wie später ein Jahr. Irgendwann, man merkt es daran dass man eine Lust zur Zerstörung entdeckt, endet sie, die Kindheit und alles wird komplizierter und trauriger und die Musik verstärkt diese neuen Gefühle. Das Herz beginnt zu schlagen zu dem Beat der Musik und man fällt in Kaktusgärten und sitzt auf Hügeln, drüben, und man raucht Joints und muss kotzen. Die Kindheit endet, mit ihr die Fantasy. Man kotzt und verändert sich.

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Es gibt grob gesagt nach der Kindheit zwei Möglichkeiten: Den Indie und den Hip-Hop. Der grobe Unterschied ist, dass die Hip-Hop Jugendlichen nicht kotzen müssen vom Jointrauch, die Indie-Jugendlichen aber immer. Die Hip-Hopper haben Eddings in den Taschen und malen damit fremde Wände an, sie klettern auf Baustellen, Dächer und auf Kräne, kiffen dabei und stehlen. An all dem ist natürlich ausschließlich die Musik schuld, in diesem Fall der Hip-Hop.

Der Indie ist aber viel gefährlicher: Scharf wie ein frisch geschliffenes japanisches Messer schneidet der Indie sich in die verunsicherten Gehirne der Jugendlichen. Wie Heroin oder Zigaretten erschafft er ein zuvor nicht (oder zumindest kaum) dagewesenes Bedürfnis für das Weinerliche und das Tröstliche. Der Außenwelt unverständliche Zeilen wie “Her name is Yoshimi, she’s a black belt in Karate” füttern diesen künstlich erzeugten Ort der Traurigkeit. Wie im Hip Hop werden die Jugendlichen schließlich zu dem, was sie konsumieren – Nur dass sie dann Jahre später depressiv und arbeitsunfähig sind und die Hip-Hopper Audi fahren und im KDW Austern essen. Ja, der Indie ist nicht süß und nicht lieblich, sondern nachhaltig selbstzerstörerischer als jede andere Subkultur. Nach dem Indie gibt es nämlich nur zwei Möglichkeiten des Weiterlebens: Die Esoterik oder die Geisteswissenschaft. Für beides leben wir heute aber in schlechten Zeiten – entweder gesellschaftliche Isolation also oder Arbeitslosigkeit und wahrscheinlich noch größere Isolation.

Auch was die Rolle des Mannes betrifft hat man es mit dem ehemaligen Indie-Boy in der Regel nicht einfach. Als sensibel bekannt ist er entgegen geltender Meinung die weniger korrekte Type gegenüber dem gemeinhin sportsmännisch denkenden Hip Hopper. Durch Jahre der Unsicherheit und der Social Anxiety entstandene Beulen führen beim Indie-Boy oft zu toxischem Charakter und dem unstillbaren Bedürfnis nach ständiger Bestätigung. Der Indie als Subkultur ist gewissermaßen die letzte Bastion des offen nach außen getragenen Schmerzes, auch wenn dieser Schmerz durch den Indie erst entsteht. Es ist ein schöner Schmerz, aber es wäre gewiss schöner ohne ihn.

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Ich gehe also nun nichts ahnend in die Galleria hinein, ohne wirkliches Ziel, denn ich habe ja wie schon gesagt nichts in den Taschen. Ich schaue Fußbälle an, Rollschuhe und die bunten Brötchen beim Trzesniewski, ich stelle mich zum Springbrunnen. 26 Düsen schießen das Wasser in die Luft das aber zusehends von der Schwerkraft eingeholt wird, es fällt eine Kurve beschreibend zurück ins Bassin. So entsteht eine Kuppelform aus Wasserstrahlen. Einmal haben viele Kinder die Düsen zugehalten und ein einzelner Strahl schoss hinauf bis an die Decke des Einkaufszentrums. Ein Security kam und alle Kinder liefen weg. Auch ein Aquarium gibt es und direkt gegenüber des Aquariums ist der Müller. Ich lief damals dort hinein. Seit dem probiere ich hier oft CDs aus, stundenlang teste ich sie mit Kopfhörern und frage die Mitarbeiterinnen, ob sie noch ähnliche hätten. Der Müller ist definitiv mein Lieblingsgeschäft, im hellen Orange hebt sich die deutsche Drogerie weit von den schummrigen Läden drumherum ab. Es gibt seltsame Säfte, Käsebällchen und Zuckermäuse, Einwegkameras, Computerspiele und Flugzeuge – und eben jede Menge neu erschienene CDs in der Multimediaabteilung.

Nachdem ich einige davon angehört habe hole ich mir wie jedes Monat das Gratismagazin Mbeat, das es an der Kassa gibt. Ich rolle es ein und verlasse den Müller, dann schlüpfe ich durch den Notausgang hinaus aus der Galleria. Nur wenige kennen diesen Weg nach draußen. Man gelangt an einen eigenartigen Ort, einen Innenhof mit allerlei Lüftungsrohren, es riecht ein bisschen nach Tiefgarage. Aus den Ritzen des Betons sprießen Gräser, ein leises Rauschen erfüllt die Luft. Hier setzte ich mich hin und entrolle das Magazin. Ich kaue an einem Fingernagel, die letzten Sonnenstrahlen fallen in die Fenster über mir. Auf dem Cover ist eine Band: Tocotronic, mit ihrem aktuellen Album, SCHALL UND WAHN.

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Dieser Text ist in gekürzter Fassung in der 800. MUSIKEXPRESS-Ausgabe erschienen. Pauls Jets aktuelles Album JAZZFEST ist im Februar 2022 erschienen. ME-Autorin Jana-Maria Mayer vergab sechs von sechs Sternen und befand: „Die Meister des Projektionsflächen-Pop düsen auf der Metarakete ihres neuen Doppelalbums aus dem Schattendasein anderer österreichischer Größen heraus.“