Popkolumne, Folge 252

Paulas Popwoche: Jahresendgefühle mit VIVA, Spotify, Eilish und Swift


Paula Irmschler über „Die VIVA-Story – zu geil für diese Welt!“, „Wrapped“, die Popfrauen 2023 und mehr.

Liebe Leute, diese Woche habe ich nicht wirklich Tipps für euch, sondern eher so Gefühle. Ist doch auch mal was! Zum Beispiel zu …

… VIVA

Am 1. Dezember 1993 ging VIVA auf Sendung, 30 Jahre ist’s her. Zu diesem Anlass gibt es in der ARD-Mediathek eine dreiteilige Doku, „Die VIVA-Story – zu geil für diese Welt!“ Sperriger Titel, aber so hat man damals wohl geredet. Ich, die als Zuschauerin erst Anfang der Nuller dazu kam, konnte da richtig was lernen, unter anderem wie sympathisch dilettantisch in den 90ern alles lief – vor und hinter der Kamera. Und was für Anstrengungen nötig waren, das Ganze überhaupt aufrechtzuerhalten. Für uns Millennials war das ja alles schon ganz selbstverständlich – Musikvideos, CDs und Handys – es schwirrte alles so rum und war nicht allzu schwer zu bekommen. Anfang und Mitte der 90er war das aber noch neu, musste besetzt und umkämpft werden und die Musikindustrie profitierte wahnsinnig. Die Doku, durch die Nilz Bokelberg, Collien Ulmen-Fernandes und Markus Kavka führen, hat drei Folgen und ist leider vieeeel zu kurz.

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Vieeel zu lang hingegen ist das Buch „MTViva liebt dich!“ von Markus Kavka und Elmar Giglinger, das auch kürzlich rauskam. Da wird die Geschichte der beiden großen deutschen Musikfernsehsender, die ja ohne einander nicht zu erzählen sind, aufgerollt und zwar mit allen Details. Wirklich allen. Und die werden auch nochmal wiederholt. Ich vermute oder fürchte, ich bin die einzige Person auf der Welt, die das Buch komplett gelesen hat, anders ist nicht zu erklären, dass es ein paar Kapitel inhaltlich mehrmals gibt. Aber sei’s drum, die Stoffsammlung ist nun auf der Welt und einige, die irgendwie mal mit MTV und VIVA zu tun hatten, kommen zu Wort. Moderator*innen, Redakteur*innen, Autor*innen, Künstler*innen und Menschen, deren Jobbezeichnung ich nicht verstehe. Vor allem die. Deshalb ist es sehr oft sehr brancheninterner Talk, für den sich vielleicht Start-uper eher interessieren dürften als Popliebhaberinnen. Spannend bis nervig finde ich vor allem diese ganzen Kumpeleigeschichten unter den Mächtigen. Damals kannte ja immer jeder jeden, man hatte gute Kontakte zur Politik, Industrie und Journalisten gaben sich hier und da die Klinke in die Hand, es gab Geschenke, Liebeleien, man hat einander „gut betreut“, es war ein „Geben und Nehmen“, kölsche Klüngel und so weiter, … bestochen wurde aber natürlich nie, man gab sich unabhängig.

VIVA-VJs und -Moderator*innen der 90er und was aus ihnen wurde

Man wird in „MTViva liebt dich“ auch sehr oft erinnert an Kult, der zweifelsohne in dieser Welt entstand, an geliebte Gesichter, etablierte Phrasen, ganze Karrieren, Nebensender, wie VIVA Zwei, von deren damaliger Genialität uns ältere Indie-Typen immer vorschwadroniert haben, Formate wie „Unplugged“, „MTV Home“, die Shows von Kuttner, Ulmen, Raab, der Comet, die Klingeltöne, all die Klingeltöne …

Quasi komplett geschwiegen wird über die Existenz von VIVA Plus … Man lernt, dass Campino ein Arschloch ist und die Kelly Family von allen gehasst wurde, man erfährt, dass Tim Renner eher vom Ärzte-Unplugged abgehauen ist mit den Worten „Das wird nix mehr“, man wusste schon vorher, wie unglaublich alles damals war, wie groß, wie krass die Partys, wie weit die Welt, wie vorhanden das Geld, man wird an Hohlbirnen wie Oli Pocher, Ben Teewag und Niels Ruf erinnert, man weiß nun sicher, dass Drogen im Sender „allgegenwärtig“ waren und dass auch für die Moderator*innen selbst MTV und VIVA ständige Begleiter waren, dass auch sie nach der Schule ihre Rucksäcke in die Ecke flatschten und das Programm den ganzen Tag laufen ließen. Ich will das auf keinen Fall missen, es war wirklich die Hälfte meines Lebens back in the days. Auch VIVA Plus. Irgendjemand muss ja darüber reden … Der größte Shoutout geht aber an diese Stelle raus an Gülcan – meine allerliebste Lieblingsmoderatorin.

„Never Forget – der 90er-Podcast“, Folge 4: Wir schwelgen mit Nilz Bokelberg in Grunge-Erinnerungen

… Thomas Gottschalk

Der Cringe war real in der letzten, angeblich allerletzten „Wetten, dass..?“-Show mit Gottschalk. Es gab ja schon viele diesen, seinen letzten Shows, aber diese war besonders würdelos. Komplett vom Zynismus zerfressen, moderierte er sich durch die 18 Stunden, brachte Gender-Spitzen, die sogar dem peinlichsten Boomer-Onkel zu peinlich gewesen wären. Dann Auftritt Shirin David, also wirklich AUFTRITT. Zunächst performte sie mit Helene Fischer im Duett „Atemlos durch die Nacht“, danach wurde sie von Thomas, der mittlerweile näher bei Gott ist als beim Schalk, sehr weird angepatzt, man würde ihr nicht ansehen, dass sie Opern-Fan und Feministin sei. Das wirkte schon sehr verzweifelt nach einem, der gar nichts mehr zu sagen hat, aber unbedingt noch stattfinden muss. Shirin David hingegen hat noch sehr viel zu sagen, dementsprechend versuchte sie möglichst cool zu kontern, was ihr ganz gut gelungen ist. Danach hat Gottschalk noch zu Cher gesagt, wie froh er sei, dass man sie noch antatschen könne. Wahnsinn, wie vorbei da jemand sein will.

„Wetten, dass ..?“: Couchzoff – Gottschalk vs. Shirin David
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… Spotify

„Wrapped“, also der Hörjahresrückblick von Spotify, war vergangene Woche da und das Internet lieferte wieder seine guten Witze und Verurteilungen dazu. Wir Last.fm-Oldies können darüber natürlich nur lachen, denn wir haben jeden Tag Musikrückblick. Vor allem ist der auch noch präziser und eben nicht nur auf Spotify begrenzt. Egal! Spotify macht das natürlich poppiger und teilbarer und hat sich in diesem Jahr auch wieder neuen Quatsch überlegt, und zwar kann man nun sehen, zu welchem Ort auf der Welt der eigene Musikgeschmack am besten passt, also ich glaube, wo halt die meisten Leute Ähnliches hören … oder so … „Sound Town“. Jedenfalls kam bei mir zum Beispiel Berkeley raus, also die Stadt in den USA. Und das Internet hat dann herausgefunden, dass wir Berkeley-Leute wahrscheinlich gay sind, wegen der Musik, die wir halt hören. Und was soll ich sagen? Wasn’t it obvious?

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Übrigens gibt es seit ein paar Tagen eine Petition von Musikern gegen die neuen Vergütungsänderungen bei Spotify (es sollen nur noch Songs vergütet werden, die mindestens 1000 Streams pro Jahr sammeln). „Pro Musik“ nennt sich der Verband freier Musikschaffender, viele bekannte Musiker*innen sind schon dabei. Hier kann man unterschreiben.

… Bisexualität

Apropos „wasn’t it obvious“: Genau das hat nämlich Billie Eilish auf dem Roten Teppich bei einer „Variety“-Veranstaltung zur Frage nach ihrer Bisexualität gesagt. Nachher fühlte sie sich unwohl damit, wie sie auf Instagram äußerte.

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Diese ganze Schubladen-Scheiße, das Sichlabelnmüssen, der Outingzwang – auch das könnte so langsam mal vorbei sein. Billie Eilish mag alle möglichen Leute, wie viele, wahrscheinlich die meisten, anderen auch. Wer ein Label will, soll es sich geben, aber wir müssen echt aufhören, von außen Druck aufzubauen. Und wir müssen 21-jährige einfach mal 21 sein und ihre Erfahrungen machen lassen.

Billie Eilish nach ihrem Coming Out: „Lasst mich damit bitte in Ruhe!“

… den Popfrauen des Jahres

Taylor Swift ist jetzt auch noch die „Person of the Year“ (laut „Time“-Magazin), gut gut, damit ist die Swiftmania nun wahrscheinlich auf dem Höhepunkt angelangt. Oder? ODER? Ich finde, nächstes Jahr könnten wir uns diesbezüglich mal wieder beruhigen und einfach die schöne Musik genießen, statt alles immer weiter und weiter aufzublasen …

Taylor Swift ist zur „Person of the Year“ 2023 gekürt worden

Und auch Beyoncé kann vielleicht eine Pause gebrauchen … Nach der ewigen „Renaissance“-Tour jetzt das Ganze nochmal im Kino? Ich traue mich noch nicht hin. Einerseits finde ich natürlich toll, in all diesen Videos im Internet zu sehen, wie die Fans ausflippen, andererseits würde ich die herumschwirrenden Handy-Lampen und das unnatürliche TikTok-Getanze vor meiner Fresse einfach nicht ertragen … There is a little Gottschalk in everyone. So, und nun heißt es warten auf die große Bescherung, auf das Highlight zum Ende des Jahres … Nicki Minajs Album! Hohoho!

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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