P.J. Harvey konvertiert zur Grande Dame des Psycho-Pop
„Brave Mädchen kommen in den Himmel, böse Mädchen kommen überall hin“, diese tumbe Frauenkalenderweisheit trifft besonders im Rockbusiness zu. „„Riot Girls“ nannte man vor einiger Zeit ditse unartigen, selbstbewußten jungen Mädels, die sich einfach ein Mikro griffen, eine Band um sich scharten und einige Sorgs mit frechen Texten und dilettantischem Independent-Gehabe zum besten gaben. Heute ist die Bezeichnung „Riot Girls“ zu einem Journalistenklischee verkommen, das Frauen meint, die zu große Gitarren spielen und unfallfrei das Wörtchen „„fucking“ singen können.
P.J. Harvey gehörte seit ihrem von Kritikern umschwärmten Album ‚Dry‘ neben Liz Phair zu den bekanntesten Exponaten der Riot Girls. Sie war die Riot-Girl-Botschafterin aus Großbritannien. Eine Mischung aus Björk und Patti Smith. Doch heute abend macht das Riot Girl auf Grande Dame. Einst stolperte sie mit zerrissenen Minikleidchen aus dem Marks & Spencer-Schlußverkauf und viel zu großen Doc Martens-Schuhen auf die Bühne, heute steht sie im ärmellosen, eleganten Kleid aus schieferblauem Velour vor dem Mikro und haucht mit tiefroten Lippen ein zartes „„Guten Abend“ hinein. „„Weird“ sagen die Amerikaner zu einem solchen Auftritt.
Mit ‚Oh My Lover‘ geht der Set los. Hat sich der Mode-Stil von Polly Jean Harvey auch geändert, der Sound ist gleichgeblieben: Rumpelnde, trockene Drums, kantige Gitarren und darüber kieksender Gesang, der kinderliedartige Melodien intoniert. Pollys Band ist weitaus kompetenter als in ihren Anfangszeiten. Eric Drew Feldmann von Captain Beefheart’s Magic Band als Keyboarder und der Tom Waits-Gitarrist Joe Gore sorgen für musikalische Disziplin und dafür, daß Miss Harvey vor lauter Glitter und Glamour die korrekten Einsätze nicht verpaßt. Doch der Imagewechsel vom Tramp zum Vamp heißt keineswegs, daß P.J. Harvey sich jetzt lasziv auf Pianoflügeln räkelt oder ihre Nahtstrümpfe spazierenführt. Ihr Habitus hat immer etwas leicht Bizarres. Immer wenn das Publikum von einem Song begeistert ist und mitklatscht, oder sonstwie unverhohlen seine Sympathie zeigt, zieht sich P.J. Harvey in ihr Schneckenhaus zurück. Sie verschleppt den Rhythmus, dreht den Fans den Rücken zu und gibt deutlich zu verstehen, daß ihr allzuviel Populismus zuwider ist. Das Publikum muß sich ihre Gelöstheit, ihre Unverkrampftheit hart erarbeiten.
Doch mit Dauer des Sets und als sie das Schatzkästlein ihrer letzten CD ‚To Bring You My Love‘ öffnet, kommt so etwas wie eine gemeinsame Atmosphäre auf, in der sogar P.J. Harvey locker agieren kann. Mit übersteuerter Stimme röhrt sie den Titelsong, gefolgt vom düster-aggressiven ‚Black Snake Moan‘. Jeder im Saal spürt, daß hier eine von ihrer Musik und ihren Songs manisch Besessene am Werk ist. Leidenschaft und Intensität sind beinahe mit Händen zu greifen. Ihre Mitstreiter auf der Bühne, vor allem John Parish, der als einer der wenigen aus alten Tagen übriggeblieben ist, ordnen sich den Arrangements unter, um die facettenreiche, schillernde Persönlichkeit P.J. Harveys voll zur Entfaltung kommen zu lassen. So ist der Sound spartanisch, minimalistisch, ja geradezu fragil, doch auf diesem Boden kann die intime, bis zum Exhibitionismus gehende Offenheit der Chanteuse am besten gedeihen. Manche Songs sind verhalten, fast versöhnlich, dann wieder infernalische Vokalausbrüche. Mit einem geradezu ekstatischen ‚Happy And Bleeding‘ endet dieser bemerkenswerte Auftritt. Ein kleines Persönchen, eine große Persönlichkeit.