Hommage

Orson Welles – Das Genie des Unvollendeten


Er brillierte schon als Jugendlicher auf der Bühne und im Radio und schuf mit „Citizen Kane“ den ersten wahrhaft modernen Film - doch in Hollywood fiel er in Ungnade und musste mit Schauspielrollen das Geld für seine eigenen Filme verdienen, die oft Fragmente blieben. Zum 100.Geburtstag des wunderbaren Orson Welles.

Bei allem, was er sonst noch war, bleibt Orson Welles der bedeutendste Regisseur des Kinos, der nur ein Dutzend Filme realisierte – von denen nur wenige vollkommen gelungen und sehr wenige populär sind. „Citizen Kane“ (1941) aber führte fünf Jahrzehnte lang die Liste der bedeutendsten Filme aller Zeiten an, bevor im Jahr 2012 Alfred Hitchcocks „Vertigo“ die Spitzenposition übernahm.

„Vertigo“ ist das Werk eines weltberühmten Regisseurs, der zur Zeit der Entstehung 58 Jahre alt war. Orson Welles war 25 Jahre alt, als er „Citizen Kane“ inszenierte, und davor hatte er 1934 nur einen Kurzfilm gedreht – in dem er als der Tod (mit Glatze) auftrat. François Truffaut sagte einmal, „Citizen Kane“ sei „für einen großen Teil aller Cineastenberufungen“ verantwortlich, und Jean-Luc Godard stanzte die Sentenz: „Alle werden ihm immer alles verdanken.“ Marlene Dietrich, die 1958 in Welles’ letztem Studiofilm, „Im Zeichen des Bösen“, eine kleine Rolle hatte, blafft Maximilian Schell in der Dokumentation „Marlene“ an: „Ein großer, großer Mann! Ein Genie! Die Leute sollten sich bekreuzigen, wenn sie seinen Namen aussprechen!“

1939: Actors Orson Welles and Joseph Cotten star in the film 'Citizen Kane'. (Photo by Keystone/Getty Images)
„Citizen Kane“ (1941) Ein ganzes Leben: Die Geschichte des Medienmoguls Charles Foster Kane inspirierte unzählige Filme

Die Öffentlichkeit kannte Welles als einen Schauspieler, der mit seiner mächtigen Erscheinung und der tief tönenden, wohlklingenden Stimme vor allem Könige, Patriarchen und Schurken darstellte. 1949 gelang Welles der Zaubertrick, das Scheusal Harry Lime in „Der dritte Mann“ als sympathischen Zyniker erscheinen zu lassen – der spöttisch-lausbübische Blick in den Schatten des Nachkriegs-Wien ist das Inbild des Orson Welles, der 1945 mit Ehefrau Rita Hayworth am heimischen Swimmingpool anderweitig pompös Shakespeare-Figuren verkörperte und Chargen in Nebenrollen, der sich verkleidete und sich Nasen anklebte, auch weil er mit seiner Stupsnase unzufrieden war, und der mit den Schauspielrollen seine eigenen Filme finanzierte, nachdem er in Hollywood schon früh zur Persona non grata geworden war.

„Ich habe ganz oben begonnen und mich dann bis ganz unten durchgearbeitet“: Mit gebotener Selbstironie sprach Welles in den späten Jahren von seiner Karriere als Hollywood-Schreck und geduldeter Außenseiter. 1971, 30 Jahre nach „Citizen Kane“, überreichte man ihm einen Ehren-Oscar; für „Kane“ hatte Welles damals bloß den Preis für das beste Drehbuch (mit Herman Mankiewicz) bekommen. Nach Jahren des Exils in Europa – auch wegen Steuer-Kalamitäten – kehrte der Löwe nach Los Angeles zurück, bewundert von jungen Regisseuren wie Peter Bogdanovich und Henry Jaglom, die sich einigermaßen vergeblich um seine Karriere bemühten. Maliziös konnte man sagen: Orson Welles’ Interviews und Aperçus waren noch besser als seine Filme. Die Auftritte in Talkshows – etwa bei Dick Cavett – und in Werbespots hielten den imposanten Feuerkopf präsent, seine rhapsodischen Monologe umreißen ganze Filme, die er nie gedreht hat.

„Ein großer, großer Mann! Ein Genie! Die Leute sollten sich bekreuzigen, wenn sie seinen Namen aussprechen!“

In den 70er-Jahren kam es in Mode, Welles’ Genie infrage zu stellen. Pauline Kael behauptete, Herman Mankiewicz habe „Kane“ nahezu allein geschrieben, andere Kritiker betonten die einzigartige Arbeit des früh verstorbenen Kameramannes Gregg Toland und seinen Anteil an der „inneren Montage“, also der Raumtiefe einer Einstellung: Innerhalb eines Bildes wird die Geschichte qua Anordnung von Personen und Dekor erzählt. Welles war tief verletzt und zählte auf, was an den Filmbesprechungen Pauline Kaels im „New Yorker“ nicht stimmte.

„Der Glanz des Hauses Amberson“
„Der Glanz des Hauses Amberson“ (1942) Welles’ düsterer zweiter Film wurde vom Studio gekürzt und verstümmelt

George Orson Welles wird am 6. Mai 1915 in Kenosha/Wisconsin, in der Nähe von Chicago, geboren. Seine Mutter, Beatrice, ist Künstlerin am Art Institute of Chicago, sein Vater, Richard, ein Erfinder und Fabrikant, der nach dem Börsen-Crash 1929 einen Teil seines ohnehin nicht erheblichen Vermögens verliert. Die Eltern lassen sich scheiden; Orson lebt bei der Mutter, und nach deren Tod 1924 wird ihrem Freund Maurice Bernstein das Sorgerecht übertragen. Der unglückliche Vater stirbt 1930 an Drogen und Alkohol, Orsons älterer Bruder, Richard, lebt in einer Heilanstalt. Der kunstsinnige 16-jährige Orson, der Karikaturen zeichnet, Texte schreibt und Theater spielt, bekommt nach dem Schulabschluss ein Stipendium der Harvard-Universität, reist aber lieber nach Irland, um nach romantischem Ideal mit seiner Staffelei durch die Lande zu ziehen. Weil das Geld nicht lange reicht, stellt er sich am Gate Theatre in Dublin als „berühmter Star aus New York“ vor – und die Impresarios, die das nicht glauben, lassen ihn dennoch machen. Bis nach London dringt der Ruf des Wunderknaben, der in „Jud Süß“ und Shakespeare-Stücken auftritt, mit jugendlichem Charisma brilliert und selbst Stücke inszeniert. Die fehlende Arbeitserlaubnis beendet Welles’ Durchmarsch. Wieder in den USA, wird er Schüler von Roger Hill an der Todd School, schreibt das Theaterstück „Bright Lucifer“, wird 1933 auf Empfehlung Thornton Wilders von einer Wan- derbühne engagiert, gründet in Woodstock ein Theater- festival und heiratet 1934 die Schauspielerin Virginia Nicolson. Er ist 19 Jahre alt.

1935 wird der Broadway-Produzent John Houseman auf den Shakespeare-Darsteller aufmerksam und engagiert ihn für das Federal Theatre Project, eine im Rahmen des New Deal subventionierte Theatertruppe. Zwei Jahre später überführt Welles dieses Projekt in das Mercury Theatre, bei dem bereits Joseph Cotten mitwirkt. Am Negro Theatre in Harlem inszeniert Welles einen spektakulären „Macbeth“, ausschließlich mit schwarzen Schauspielern, 1937 bringt er einen „Caesar“ nach Shakespeares Drama als Parabel über den virulenten Faschismus auf die Bühne. Bertolt Brecht bietet ihm „Leben des Galilei“ an, doch Welles verzichtet auf die Inszenierung, als Brecht sich allzu sehr einmischen will. Bei aller Egozentrik ist Welles ein Liberaler mit sozialem Bewusstsein, der Franklin D. Roosevelt trifft und dessen Kampagnen unterstützt.

„Der Fremde“
„Der Fremde“ (1946) Als Nazi-Bösewicht, der in einer Kleinstadt den ehrbaren Bürger gibt, übertrieb Welles das Dämonische

Neben seiner Theaterarbeit ist Welles der Sprecher der NBC-Reihe „The March Of Time“ im Radio, in der politische Ereignisse nachgestellt und kommentiert wer- den. 1937 übernimmt er die Titelrolle in der Krimi-Reihe „The Shadow“, dann wirkt er an „The Mercury Theatre On The Air“ mit: Werke der Weltliteratur werden für den Hörfunk bearbeitet; unter anderem sind die späteren Filmregisseure Richard Brooks und Abraham Polonsky beteiligt. Im Frühjahr 1938 erscheint das Konterfei des Wunderknaben auf dem Titelbild von „Time“. Am 30. Ok- tober desselben Jahres wird seine Adaption von H. G. Wells’ „Der Krieg der Welten“ live von CBS gesendet: Im Stil einer Reportage inszeniert der entfesselte Fantast die Landung Außerirdischer in New Jersey – und löst eine Massenhysterie aus. Adolf Hitler feixt: So instabil sind die Verhältnisse in der westlichen Demokratie!

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