„OPER IST FÜR MICH WIE POPMUSIK“
Goth ist so was von zurück. Gut, in Leipzig war er nie weg, aber das ist ein anderes Thema. Die schwarzgewandeten, nach Patschuli duftenden Düsterjünger Ostdeutschlands dürften auch mehr als melancholisch die Köpfe schütteln über das, was da zur Zeit auf Blogs und Festivals in aller Welt stattfindet. Im Jahr 2013 hat Goth einen Tumblr-Account. Er trägt bunte Leuchtbändchen ums Handgelenk und die Haarspraydose hält ihm inzwischen länger als ein Wochenende. Dicker, schwarzer Trauerflor um die Augen ist längst keine Pflicht mehr, das würde man hinter der neonfarben verspiegelten Ray-Ban-Brille eh nicht sehen. Der Mascara wird heute lieber dazu benutzt, sich gleichschenklige Dreiecke in die Armbeuge zu malen. Junge Scenester mit Macbooks und Undercuts entdecken seit ein paar Jahren dunkel funkelnde Synthetik, Melodrama, tanzbare Traurigkeit und die sakrale Geste für sich. Darkwaver der alten Schule sprechen da lieber von feindlicher Übernahme als von Revival.
Katie Stelmanis hat sich bei dieser Okkupation besonders hervorgetan. Das 2011 veröffentlichte Debüt ihres Projekts Austra war erstaunlich erfolgreich und auch die Kritiker sahen in FEEL IT BREAK einhellig einen der gelungensten Versuche, düsteren Synthie-Pop zu modernisieren. Dass die Kanadierin nun im Interview zugibt, bis vor Kurzem nicht mal einen einzigen Song von Depeche Mode gekannt zu haben, dürfte nur zu gut ins Bild erboster Traditionalisten passen. Letztlich zeigt es aber nur eines: Um heutzutage solche Musik zu machen, muss man die Klassiker nicht mehr kennen. Es reicht zum Beispiel auch, wenn man SILENT SHOUT von The Knife rauf und runter gehört hat. The Knife -eine Band, die Stelmanis bewundert – haben anno 2006 den dunklen Kanon der 80er-Jahre so umfassend in die musikalische Sprache des neuen Jahrtausends übersetzt, dass eine ganze Generation junger Künstler daran anknüpfen kann.
Überhaupt dürfte Katie Stelmanis über die Erbsenzählerei engstirniger Pop-Nerds nur müde lächeln. Schließlich hat sie sich ihr halbes Leben in einem musikalischen Universum bewegt, dessen Traditionslinien ganze Jahrhunderte überspannen und mit eiserner Strenge gewahrt werden. Im Alter von zehn Jahren wurde sie in die Canadian Child Opera Company aufgenommen, eine Institution, die es sich zum Ziel gemacht hat, „Kinder an die Magie der Oper heranzuführen“. Nebenbei ließ sie sich zur klassischen Pianistin ausbilden. Wer die hehren Hallen der E-Musik in ihrer Monumentalität und Härte kennengelernt hat, blickt denn auch recht unsentimental auf die Vergänglichkeit des Popgeschäfts: „Denk doch nur mal daran, welche klassischen Komponisten heute noch relevant sind – nicht viele. Aus dem 18. Jahrhundert kennt man Mozart, dann kam Beethoven. Dabei müssen es Abertausende von Musikern und Komponisten gewesen sein, viele davon bedeutend für ihre Ära. Nur ein paar wenige haben am Ende den Test der Zeit bestanden. Dasselbe gilt für Pop. Es gibt Millionen von Künstlern da draußen, in hundert Jahren werden davon nicht mehr viele übrig sein. Es sind heute jeweils eine Handvoll Bands, die eine bestimmte Dekade repräsentieren, die für ihr Jahrzehnt stehen, die Fünfziger, die Sechziger, die Siebziger Und mit jedem verstrichenen Jahr wird diese Zahl noch kleiner.“
Der klassischen Musik verdankt Stelmanis nicht nur ein gehöriges Maß Abgeklärtheit, sondern auch ihr Alleinstellungsmerkmal im Heer der Synthie-Pop-Revivalisten. Als sie nach der Highschool beginnt, in einem Szenecafé in Toronto zu jobben, und sich ihr nach und nach die Welt der Pop-und Dancemusik erschließt, hat sie etwas, was die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen nicht haben: eine klassisch ausgebildete Gesangsstimme. Wo bei anderen gekiekst, gecroont, oder unter Zuhilfenahme einer ganzen Batterie digitaler Effekte die nötige cutting edge gesucht wird, da thront über den pulsierenden, repetitiven Stücken von FEEL IT BREAK strahlend Stelmanis‘ glasklare und kräftige Stimme, jauchzend, tremolierend und oft angereichert von komplizierten, mehrstimmigen Harmonien. Das ist alles organisch und passt doch in seiner maschinenhaften Perfektion erstaunlich gut zu den elektronischen Instrumentals. Für die Ohren des zeitgenössischen Pop-Fans wirkt der dramatische Gesangsstil der Oper ja sowieso oft fremder und unmenschlicher als es eine gepitchte oder verzerrte Stimme je könnte. Stelmanis spricht von „erlerntem Geschmack“:“Es ist definitiv gewöhnungsbedürftig. Diese Art zu singen hört sich für viele nach Geschrei an, die meisten empfinden das erst nicht als schön. Ich bin eben damit aufgewachsen. ,La Bohème‘ war eine der ersten Opern, in der ich als Kind mitgespielt habe. Drei Monate lang war ich jeden Abend umgeben von dieser Musik, von der Geschichte, von den Charakteren. Wenn ich heute eine Oper wie ,La Bohème‘ höre, dann ist das für mich wie Popmusik.“
Folgerichtig ändert sich am Gesangsstil auf OLYMPIA, dem Nachfolger zu FEEL IT BREAK, nichts. Man hört hier immer noch ein einziges einsames Bitten, Flehen und Klagen („Come back to me!“, „What do I have to do, to make you forgive me?“, „You know that it hurts me when you don’t come home at night“,“Oh, don’t hurt me now!“), das mit arienhafter Grandezza vorgetragen wird. Der musikalische Unterbau allerdings wurde um einige Varianten erweitert. Noch immer pulsiert er weitestgehend in einem mittleren Tempo vor sich hin, zu dem sich wunderbar sediert und melancholisch tanzen lässt. Die Drums klingen dabei aber oft unaufdringlicher und organischer -wie aus einer Zeit, in der sich Dancemusik noch nicht programmieren ließ. Immer wieder legen sich klassische Instrumente auf die Beats: Flöten, Bläser, Orgeln, Streicher. In „Home“ und „You Changed My Life“ wird Stelmanis‘ Stimme anfangs nur von einem Klavier begleitet. Auch wenn der Closer des Albums, „Hurt Me Now“, noch mal mit Halftime-Beat, Delay und mächtigem Synthie-Bass aufwartet, und so auch von Crystal Castles, Chvrches oder Purity Ring produziert worden sein könnte: Im Ergebnis wirkt OLYMPIA reduzierter und spärlicher als der Synthie-Pop der Konkurrenz, der mit immer noch größeren, funkelnderen, eisigeren Klängen hantiert. Stelmanis: „Ich wollte, dass sich das Album sehr echt anhört, mit echten Instrumenten und einer organisch klingenden Produktion.“ Dabei wurde auch der Tatsache Rechnung getragen, dass das Projekt Austra inzwischen zu einer richtigen Band herangewachsen ist: Erstmals durften die Mitmusiker – allen voran Drummerin Maya Postepski und Bassist Dorian Wolf – ihr Scherflein zu den Kompositionen beitragen: „Ich habe die Songs bewusst unfertig gelassen, Maya und Dorian Skizzen und Ideen vorgespielt, die sie dann weiterentwickeln konnten. Die Musik klingt nicht mehr nach einem Ein-Mann-Schlafzimmer-Projekt, sondern nach einer Kollaboration.“ Die Zusammenarbeit lässt sich hörend nachvollziehen, die verschiedensten Klänge und Ideen legen sich Schicht für Schicht übereinander – auch wenn das Ergebnis bisweilen weniger zwingend wirkt als auf dem Debüt.
Angst, Erwartungen zu enttäuschen, hat Katie Stelmanis offenbar nicht. Schließlich ist es gerade der geringere Erwartungsdruck, der sie einst aus klassischen Gefilden ins Reich der Popmusik getrieben hat: „Als klassischer Musiker bist du Interpret. Du trägst Stücke vor, die jemand anderes geschrieben hat, und es gibt sehr spezifische Regeln, wie du das zu tun hast. Es gibt einen Standard in der Welt der Klassik und dein eigener Gestaltungsspielraum ist sehr begrenzt. Die Stücke wurden über Hunderte von Jahren immer wieder aufgeführt, und wenn du sie nicht so vorträgst, wie die Leute das erwarten, dann werden sie böse. Sie werden es nicht mögen. In der Popmusik kannst du alles machen, was du willst. Buchstäblich alles. Vielleicht werden es die Leute ebenfalls nicht mögen, aber zumindest haben sie keine festen Erwartungen.“ Ihr Wort in Goth’es Ohr!
Albumkritik S. 78