Nie mehr Open Air?
Festival - Krise in Deutschland: Noch nie kamen so viele Mega-Stars wie 1987 zu uns, noch nie gab's so viel Ärger. Mit Protest- Aktionen wehren sich die Fans gegen das rücksichtslose Absahnen.
Stundenlang bewegungslos im Stau eingequetscht — des Deutschen liebstes Urlaubsvergnügen nicht nur auf der Autobahn, sondern nun auch im Open-Air-Konzert. Knöcheltiefer Sumpf auf den Toiletten, Chris de Burgh nicht einmal mehr mit dem Feldstecher zu erkennen und ein Sound, der gerade noch das Fritten-Fett-Gebrutzel aus dem Imbiß-Budenzauber übertönte. Da platzte in München selbst den hartgesottensten Freiluft-Fans der Kragen, die sich bislang ja eigentlich als besonders schlammbeständig und leidensfähig gezeigt hatten. Klagen und Proteste auch aus Köln, Mannheim, Hamburg oder Dinkelsbühl. Noch nie war die Institution „Massenerlebnis Livemusik“ so massiv wie heuer durch Organisationspannen und Größenwahn in Verruf geraten.
Bei Skeptikern galten Open-Airs schon lange nicht nur durch die Flurschäden als „musikalische Umweltverschmutzung“. Mit laienhaften Planungsfehlern wie in München (z.B. Stromnetz zu schwach), unbedeutendem Beiprogramm und katastrophalen Platzverhä’ltm’ssen scheint die Toleranzschwelle überschritten.
Mit leichten Quetschungen war noch die „Genesis“-Premiere der Deutschland-Tour in Mannheim zu überstehen. München-Riem konnte mit seinen 100000 Besuchern schon beinahe den Straftatsbestand der Freiheitsberaubung erfüllen. Fast harmlos dagegen ein Schild in Dinkelsbühl: „ELP treten nicht auf, Karten werden nicht zurückgenommen. „Die Veranstalter trauen sich was und konnten es sich bislang auch leisten.
In München-Riem war aber offenbar auch für die Geduldigsten das Maß voll. Noch auf dem Open-Air-Gelände, einem Reitstadion, eröffneten Fans Unterschriftenlisten. Andere drohten mit dem Anwalt, um ihr Geld zurückzubekommen.
Wie überraschend für Marcel Avram und seine MAMA-Crew dieser Proteststurm gekommen sein muß, zeigt schon das vorgedruckte Entschuldigungsschreiben: Das Wetter mußte als Ausrede herhalten, genauer der „regenreichste Sommer seit 30 Jahren“, durch den das Stadion nur noch mit Geländewagen befahrbar gewesen sei.
Zu offensichtlich für jedermann waren die drastischen Fehlplanungen: Unsinnige Bühnenposition, 20000 Karten zuviel verkauft, verstopfte Wege und Klos, keine Sicht, kaum Ton, aber volle Kassen. Wie die eingehenden „Geld zurück“-Forderungen im einzelnen beurteilt und gehandhabt wurden, darüber wollte sich MAMA-Concerts nicht weiter auslassen. Immerhin, so Pressesprecher Jean Baptiste Doerr, seien rund 100000 Mark an reklamierende Fans geflossen. Als gerüchteweise umging, „MAMA-Concerts“ hätten eine Million Gewinn eingeschoben, war die Legende vom Open-Air als eine An karitative Seelsorge-Veranstaltung fürs Fan-Gemüt gestorben.
Stand in Monterey, dem ersten großen Open-Air vor 20 Jahren, mit Hendrix & Co. noch die damals neue Rock-Musik im Vordergrund, wurde schon zwei Jahre später auf dem Akker von Woodstock der Festival-Mythos vom friedlichen Gemeinschaftserlebnis geboren. Aber längst hat das Open-Air seine Einzigartigkeit als Ereignis verloren, ist es der Normalzustand im Sommerloch. Jedes zweite Dorf stöpselt inzwischen ein Festival zusammen, überall wird unter freiem Himmel gegen Hunger oder die WAA, für Bergarbeiter oder ein atomwaffenfreies Europa musiziert. Trotz Festival-Inflation kennt Großveranstalter Peter Rieger dagegen nur drei Idealgelände: Berliner Waldbühne, Loreley und Bad Segeberg, alles Amphitheater mit freier Sicht auf die Bühne. „Darüber hinaus sind nur Stadien geeignet. Das Publikum weiß dann, was es erwartet. Im Freigelände zahlt jeder das Gleiche, es kommt nur darauf an, möglichst früh dazusein.“
Nicolaus Lange
„Ich bin mit der Bahn von Hamburg nach Frankfurt zu Madonna gefahren. Kontrolleure nahmen uns Plastikflaschen, Zigarettenschachteln und Deo-Sticks ab. Im Stadion liefen mit Knüppeln bewaffnete MP’s rum. Es sah aus wie im Bürgerkrieg.“ Das Open-Air-Publikum hat nun erstmals Flagge gezeigt. Konnten die Veranstalter früher die Arenen bedingungslos vollschaufeln, wird jetzt auch von den Festivals Qualität und Service gefordert. Das Festival der 70er Jahre, weniger Musikereignis als Alibi, sich mal so richtig auszutoben, könnte nun ausgedient haben.
Vielleicht ist ja das „Modell Madonna“ die Zukunft des Open-Airs? Elf Sonderzüge karrten am 22. August die Fans direkt vors Frankfurter Waldstadion. Vom kunstvoll gestylten Madonna-Double bis zur Jung-Familie mit Kühlbox. Die Bundesbahn gab sich jugendlich. Nach perfekter Show, die erwartungsgemäß nur von den vier großen Videowänden zu erkennen war, und alkoholfreiem Bier dann der perfekte Service: Madonna war keine zwei Minuten von der Bühne, da erinnerten Stadion-Leuchttafel und -Ansager die Fans, auf welchem Gleis sie den richtigen „grünen Sonderzug“ finden. Ab nach Hause, alles aufgeräumt.
Uneingeschränkt an die Idee des Open-Airs glaubt noch Peter Wagner, der heuer nach dreijährigem Kampf mit den Behörden erstmals sein „Blue Danube“-Open-Air im Deggendorfer Stadtpark durchsetzte. „Mit dieser Atmosphäre kann ein Hallenkonzert nicht mithalten“, schwärmt der 21jährige BWL-Student, der für den Open-Air-Traum mit Chuck Berry ein Semester ausfallen ließ.
„Wie ein Fest“, sind auch für Herbert Grönemeyer die Außenkonzerte, unbeengt von einer Halle, in denen Auftritte schnell zu „Vorträgen“ würden. Wo andere auf Intimität schwören, laufen viele Musiker unter freiem Himmel angesichts des gesichtslos-wogenden Menschenmeeres erst zu großer Form auf. Auch für den Zuschauer können Open-Airs immer noch ein Erlebnis sein. Daß Petrus manchmal nicht mitspielt, wird man keinem Veranstalter zum Vorwurf machen. Wohl aber die Tatsache, daß einige Organisatoren,— mit Blick auf den Geldbeutel – katastrophale Verhältnisse einreißen lassen. Wer 50.- DM Eintritt und mehr bezahlt, möchte nicht, 300 Meter von der Bühne entfernt, im Schlamm sitzen.
„Natürlich ist auch der Kunstler daran interessiert, daß das Publikum sieht und hört“, bekräftigt Steve Hedges, der als Agent Stars wie „Marillion“, „Peter Gabriel“ oder „Genesis“ vertritt, „aber ob die Organisation qut oder schlecht war, weiß man meistens erst hinterher, da kann man dann nur den Veranstalter wechseln.“
Tournee-Profi Rieger schießt zurück: „In Mannheim wäre ich mit Genesis lieber ins Stadion gegangen. Aber so sind auf dem Freigelände 30000 mehr gekommen. Und ob man optimale Bedingungen bieten oder 1,5 Millionen Mark mehr einnehmen will, das ist letztendlich eine Entscheidung des Managements.“