Nicht perfekt im Detail


Doch perfekt im Großen ist das neue Album von Patrice. Weil er sich nichts erzählen lassen muß von der weiten Welt. Er erlebt sie selbst und spricht von ihr in seiner Musik.

Patrice‘ Schwesterherz steckt sich fröhlich glucksend Früchte in den Mund und ein paar lauwarme Pommes hinterher. Sie räubert in der Interviewpause das Minibüffet des Bruders und erklärt: „Ich war gerade krank, deshalb ist mein Magen verkleinert, weil ich nichts zu mir nehmen konnte. Und jetzt kommt der Hunger in kleinen Etappen zurück.“ Hoppla, ist das jene Schwester, die Patrice damals, zu Hause in Kerpen, ja, dem Schuhmacher-Kerpen, mit Bob Marley bekannt gemacht hat? Mittels Kassette, B-Seite: „Rocky Horror Show“? Ja, das ist sie; er hat ja nur die eine. Komisch, wenn man immer wieder auf so eine Episode wie auf eine Legende angesprochen wird, nur weil man es in ein paar Interviews erzählt hat, oder? „Ja.“ Seltsam. Aber nicht, daß sich Patrice das groß anmerken lassen würde. Der junge Mann ist mit geschmeidigem Gemüt ausgestattet, das ihn die stürmischen Mundraubzüge seiner Schwester ebenso freundlich überstehen läßt wie die tausendste Frage nach längst leiernden Marley-Tapes. Denn sie werden es natürlich wieder schreiben in Lifestyle-Blättern und TV-Zeitschriften: Patrice und Gendeman, das sind die beiden, die dafür gesorgt haben, daß Jamaika heute gleich drüben auf der anderen Rheinseite liegt.

„Beim ersten Album bist du noch ganz unschuldig“, sagt Patrice: „Das kommt dann raus, und plötzlich geben fremde Leute ihre Meinung dazu ab. So war HOW DO YOU CALL IT? eine Reaktion darauf, daß mich alle Leute in die Reggae-Ecke drängen wollten.“ Also zeigte es ihnen der geprüfte Wunderknabe – mit einer Platte, die fast ohne Reggae auskam, dafür sehr aufgeräumt und weltgewandt die Stile mixte. Zu Soul-Pop, HipHop-Pop, Latin-Pop … die ganze Palette. Und weil Patrice nach eigener Beschreibung ein Mensch der Extreme ist, mußte jetzt wieder alles anders kommen: „Ich habe mich in mein Studio zurückgezogen, die Türen zugemacht, niemand hat etwas gehört für ein Jahr lang. Dort machte er sich lange Gedanken, plante, arrangierte von langer Hand. Das neue Album sollte „bewußt dreckig, roh, teilweise auf’s Minimum begrenzt“ klingen und deshalb analog eingespielt werden. Dadurch ließ sich in der Postproduktion aUerdings auch nicht mehr viel dran drehen. Sein Mut wurde belohnt. Er selbst sagt – nur die Wahrheit über NILE: „Das Album ist unperfekt, wenn man das Detail unter die Lupe nimmt, aber für mich perfekt, wenn man das Große betrachtet.“ Groß wie der Nil eben. War er schon dort gewesen? „Ich bin, nachdem ich mich entschlossen hatte, das Album so zu nennen, hingefahren und habe auch eine bestimmte Energie, Stimmung gefunden“, berichtet Patrice. Allerdings sei der Strom eher als Synonym zu verstehen für das Fließen, das Leben und den Ursprung: „NILE ist nicht ortsgebunden gemeint.“ Was soll er sich auch binden, wo man den Kerpener doch auf der halben Welt mit offenen Armen empfängt. Für ihn bleibt diese musikalische Bummelei vor allem deshalb spannend, weil in jedem Land anders auf ihn reagiert wird. In Italien ein Popstar, in Frankreich war die zweite Platte ein Selbstläufer, in London fängt er bei null an. „Ich gehe in ein neues Land und merke dann: Oh, hier wirst du ja ganz anders wahrgenommen! So gehe ich fließend über von Bodyguards und Fahrservice zum S-Bahn-Fahren.“ Es sind nicht zuletzt diese Erfahrungen, die Patrice nur ein leichtes Nicken entlocken, wemn er mit dem Vorwurf konfrontiert wird, als eine Art Roots-Importeur den Multikulti-Kasper zu geben: „Die Musik, die ich mache, bin ich. Sie ist nicht übernommen, sondern original. Es gibt zum Beispiel Leute in Jamaika, die mich nachmachen.“ Echte Multikultur entsteht nur, wo: Menschen Grenzen nicht überschreiten wollen, sondern diese erst gar nicht richtig wahrnehmen. Patrice scheint auf diesem Auge tatsächlich blind zu sein.

www.yomama.de