Never Get Old die 90er Jahre bis heute


Das neue Jahrzehnt beginnt für den Privatmann Bowie denkbar positiv. Er lernt Anfang 1990 in Los Angeles die 34-jährige, als Model weltweit bekannt gewordene Schauspielerin Iman Abdul Majid kennen. Zwölf Jahre später wird Bowie die Begegnung mit der Somalierin in einem Interview mit ME-Reporter Josef Winkler als Wendepunkt in seinem Leben werten:

„Mitte der 80er war ich furchtbar unzufrieden, als Künstler, privat da hat nichts gestimmt. Ich kann mich erinnern, wie enttäuscht ich war und dann, wieso um 1989/1990 herum plötzlich alles anfing, zusammenzupassen, wie ein Neuanfang. 1990 lernte ich auch meine Frau kennen. …Und seither geht es nur bergauf.“

Und in der Tat wirkt Bowie nun immer mehr wie ein Mann, der seinen Frieden mit sich gemacht hat. Seinen am Ideal des Renaissance-Menschen (eines Universalgenies, das sich in den unterschiedlichsten Künsten und Wissenschaften bildet und ausdrückt) orientierten Lebensentwurf versucht er dabei mehr denn je in einem modernen Kontext (Film, Malerei, neue Medien) auszuleben.

Bowie zählt heute ZU den allseits respektierten Eider Statesmen des Pop – und wie bei den meisten von ihnen wird auch bei ihm mit den Jahren ein gewisser Traditionalismus immer deutlicher. Nur dass dieser sich bei ihm nicht im Rückzug in historische Musikstile (siehe Eric Clapton, Rod Stewart) und auch nicht in der serienmäßigen Produktion offenkundiger Selbstplagiate (siehe Rolling Stones, Elton John) äußert, sondern eher in der Rückbesinnung auf klassische Songwriting-Tugenden und der Weiterentwicklung eigener musikalischer Rezepte. Wo einst eine atemberaubende Kehrtwendung auf die nächste folgte, wird spätestens seit hours (1999) die Suche nach Kontinuität erkennbar. Musikalisch wird er sich so selbst zur wichtigsten Quelle, auch wenn er immer wieder glaubhaft versichert:

„Ich will mich nicht auf meinen alten Lorbeeren ausruhen.“

Schon die Neunziger jahre beginnt er mit einem Akt der künstlerischen Bestandsaufnahme: Bowie bringt mit dem auf Re-Issues spezialisierten US-Label Rykodisc eine groß angelegte Retrospektive seines Backkatalogs auf den Markt: Unter dem Editionstitel soun d & vision erscheinen 18 mit umfangreichem Bonusmaterial ausgestattete Alben neu. Dazu begibt sich Bowie auf eine Welttournee mit insgesamt no Konzerten. Parallel dazu läuft noch immer sein Rockband-Projekt Tin Machine, mit dem er sich vom 8oer-Jahre-Megastar-Pomp kuriert. 1991 erscheinen dessen zweites Album tin machine 11 und der Livemitschnitt oy vey, baby – beide ohne große Anteilnahme der plattenkaufenden Öffentlichkeit. Doch nach der kirchlichen Heirat mit Iman in Flo renz 1992 folgt kurz darauf die Beerdigung von Tin Machine. Bowie ist als Musiker wieder so weit bei sich, dass er auch wieder als Bowie im Blickpunkt stehen kann. Für blacktie white N OISE frischt er die Kooperation mit Chic-Mastermind Nile Rodgers auf, auch Mick Ronson ist erstmals nach zwanzig Jahren wieder bei einerBowie-Produktion an Bord.

Eine Zeit lang scheint in den frühen bis mittleren goern die Musik in Bowies Leben nicht mehr die zentrale Rolle zu spielen. So kündigt er zwar das 1995 zusammen mit dem alten Kreativpartner Eno produzierte Quasi-Konzeptalbum 1. outside als Beginn einerTrilogie an – die erlebt jedoch keine Fortsetzung. Im gleichen Jahr offenbart Bowie im ME-Interview, wie er seinen Neo-Renaissance-Lebensstil managt, Ehe, Musik, Malerei, Schauspielerei unter einen Hut bringt: „£5 ist leichter, als man denkt. Malen kann ich überall, selbst im Hotel. Bislang hatten Iman und ich das Glück, das wir nie gleichzeitig arbeiten mussten. Mal muss sie weg, zum Beispiel nach Südafrika, dann fahre ich mit und sehe mir dort die Kunstszene an. Und muss ich einmal wirklich länger weg, dann kommt Iman mit. Das klappt perfekt.“ Das Paar pendelt in diesen Jahren zwischen Wohnsitzen in New York, Lausanne, Los Angeles und auf der Karibikinsel Mustique, fuhrt ein klassisches Jet-Set-Leben.

Anfang 1996 wird Bowie in die Rock’n’Roll Hall Of Farne aufgenommen. Vielleicht riecht dem Briten diese Ehre dann doch schon zu sehr nach Rockmuseum – jedenfalls unternimmt er noch einmal einen vergleichsweise radikalen Versuch, kreativ ganz vorne an der musiklischen Trendfront mitzumischen: Im Januar 1997 präsentiert er auf dem Album earthling Experimente mit Drum’n’Bass. Wirklich innovativ aber ist Bowie inzwischen vor allem hinsichtlich der Vermittlung, Verbreitung, Verpackung und Vermarktung seiner Musik: Er experimentiert u.a. mit dem neuen Modemedium CD-Rom, produziert Songs für das Computerspiel „Omikron: The Nomad Souls“. Und im Februar 1997 bringt Bowie sein Schaffen an die Börse: Die „Bowie-Bonds“ sichern ihren Besitzern eine Beteiligung an Erlösen aus verkauften Alben und Nebenprojekten des Künstlers. 1998 wird seine hochmoderne Website BowieNet lanciert, auf der zahlende Mitglieder Zugang zu allerlei exklusiven Inhalten, darunter auch Tagebucheintragungen des Meisters, erhalten.

Für Bowie ist die Site nichtzuletzt ein ideales Instrument, um die Meinungen und Stimmungen seiner Fans auszuloten. Vielleicht sind sie dafür verantwortlich, dass der Brite sich nun zunehmend an der eigenen Historie orientiert. Über das 1999er Album HOURS urteilt Jerome Soligny im ME: „Schon beim ersten Anhören stellt sich das verwirrende Gefühl ein, dass David Bowie eine umfassende Retrospektive der bekanntesten Phasen seiner Karriere realisieren und so die Uhr ein letztes Mal zurückdrehen wollte. Mal fühlt sich der Hörer an hunky dory erinnert, mal an Space oddity … mit HOURs fasst Bowie gleichsam sämtliche Inkarnationen, die er als Künstler erlebte, auf einem Album zusammen.“

2001 gründet der Umtriebige sein eigenes Label Iso, das international von Sony Musk vertrieben wird. Hier erscheint auch sein 2002er Album heathen, aufdem sich die autoreferenziellen Tendenzen von HOURS fortsetzen. Josef Winkler im ME: „Ein einnehmendes, reifes Album, das sich des Gesamtwerkes im Hinterkopf bewusst ist und daraus schöpft, ohnefreilich nur wohlfeile Versatzstiicke aneinanderzureihen.“

In der Entstehung der neuen Werke findet sich keine Spur mehr vom schöpferischen Chaos früherer Jahie. Statt auf kreative Schübe verlässt sich Bowie nun auf eiserne Disziplin. Tony Visconti beschreibt dem schweizerischen Kulturmagazin „Du“ einen typischen Arbeitstag während der Produktion so: „Davidhatte die meisten Songs bereits im Vorfeld geschrieben. Er stand sehr früh auf, kochte sich eine große Kanne Kaffee und ging um 6 Uhr morgens ins Studio. Dort setzte er sich ans Keyboard und feilte an einerSongidee. Um 10.30 Uhr war er fertig. Dann rief er mich an oder klopfte an meine Zimmertür und sagte: ,lch bin bereit‘.’Wir zogen den DrummerMatt Chamberlain hinzu, und Davidbrachte ihm und mir den neuen Song bei. Dann arbeiteten wir den ganzen Tag an genau diesem Song, versuchten verschiedene Arrangements, bis Songablaufund Struktur fertig waren.“

Der wiedererwachte musikalische Biss äußert sich auch auf der umjubelten 2002er Tournee: Bowie gibt sich als glänzend gelaunter Conferencier seiner eigenen Werkgeschichte – und wirkt dabei doch ganz im Hier und Jetzt angekommen. Im Zugabe-Set spielt er zudem beinahe alle Songs seines Seventies-Klassikers LOW.

Das 2003er Werk reality konsolidiert den Formanstieg. Bowie lässt das Präsentationskonzert dazu live in 68 Kinosäle in 22 Ländern übertragen, heathen wie reality zeigen einen Bowie, der sich seiner Musik nicht nur mit mehr Ehrgeiz, sondern auch größerer Selbstsicherheit als in den 8oern und goern widmet. Tony Visconti: „An heathen arbeiteten wir acht Monate lang. Wir nahmen mehr Lieder auf und hatten mehr Zeit für Experimen te. Die Produktion von reality dauerte von Januar bis] uli 20 03.Wir nahmen insgesamt 22 Liederauf“

Geblieben sind dem Bowie sehen Schaffen auch die zentralen Themen: Angst, Isolation, Verlassensein, wie der Künstler selbst diagnostiziert: „Diese Themen ziehen sich durch meine gesamte Arbeit, ich habe sie eigentlich auf jedem Album in irgendeiner Weise aufgegriffen. ¿ Ich bin noch immer auf dieser spirituellen Suche. Man nähert sich ihnen immer wieder aus anderen Blickwinkeln.findet neue Aspekte. Das ist mein Beruf.“

Im Sommer 2004 Wird der Aufschwung

jäh unterbrochen. Während Bowie den europäischen Festivalzirkus betourt, spürt er heftige Schmerzen, die zunächst nur als Folgen eines eingeklemmten Nervs diagnostiziert werden. Nach seinem Auftritt beim Hurricane-Festival wird er in eine Klinik eingeliefert. Als sich dann herausstellt, dass es sich in Wahrheit um eine blockierte Ar terie handelt, muss sich der 57-Jährige einer Notoperation am Herzen unterziehen. Doch schon nach wenigen Wochen ist er wieder auf den Beinen, um wie gewohnt die aktuellen Entwicklungen in seinem Metier nicht zu verpassen: Im Spätsommer und Herbst des Jahres lässt sich der Star in New York bei Konzerten von Interpol, Franz Ferdinand und Arcade Fire blicken. Der Multimillionär ist im sechsten Lebensjahrzehnt selbstredend nicht mehr Teil einer Jugendkultur-geprägten Szene, aber er hält zumindest besuchsweise Kontakt zu ihr: „Ich zwinge mich immer, dranzubleiben. Man findet immer etwas gutes Neues. Zugegeben, die Suche ist es etwas schwerer geworden. Die Medien helfen einem dabei ja nicht gerade. Im Radio und im Fernsehen hört man ja kaum noch was Gutes. Aber dann muss man sich eben die Mühe machen.selbstherauszufinden.wer die guten neuen Bands und Autoren sein könnten.“

Sein eigener Einfluss auf andere Künstler wiederum ist in den letzten anderthalb Jahrzehnten eher wieder gewachsen: Ob ihm nun der Avantgardekomponist Philip Glass 1993 mit der LOW SYMPHONY Tribut zollt oder die Futureheads 2006 mit einer Coverversion von „Let’s Dance“ überraschen – Bowies Musik inspiriert allenthalben.