Neneh Cherry
Von TripHop über Rock'n'Roll bis hin zu lupenreinem Pop. Die sinnliche Schöne mit der schwarzen Stimme beherrscht sämtliche Metiers. Doch im Gegensatz zu vielen, musikalisch ähnlich ambitionierten Kollegen kommt bei Neneh Cherry auch die Show nicht zu kurz.
„I have a little hangover from Hannover“, kalauert Neneh Cherry und läßt die Zuhörer in den vollgepackten Hamburger ‚Docks‘ nicht im Unklaren über die Schwere des gestrigen Absturzes. Sie hätte sich morgens um fünf auf der Tanzfläche irgendeiner Disco liegend wiedergefunden. Weitere Details erspart sie uns, wahrscheinlich erinnert sich die dreifache Mutter selbst nicht mehr so genau. Was sich wie eine vorweggenommene Entschuldigung anhört, ist wohl nur ein Scherz, denn während der folgenden 100 Minuten ist nichts mehr von den Exzessen der letzten Nacht zu spüren.
Vielleicht hätte lieber der mit Vorschußlorbeeren angetretene Supportact, die Sneaker Pimps, diese Ausrede bemüht, um ihre statisch langweilige Bühnenshow zu erklären. Musikalisch auf der Höhe und ganz in der Manier ihres sehr gefällig-reizvollen Debütalbums, überbot sich die müde Truppe live leider bestenfalls im Herumstehen. Ganz anders dagegen die 32jährige Neneh Cherry. Mit einer Tricky-reichen Version ihres Klassikers ‚Manchild‘ eröffnet sie ohne Umschweife den Abend. In skurril anmutender Bühnendekoration mit drei Dutzend herabhängenden Galgenstricken, an denen so nützliche Dinge wie eine Rehbocktrophäe oder künstliche Blumensträuße baumeln, dreht Neneh ihre Runden. Befürchtungen, ihre Begeisterung für den Bristoler Soundbastler könnte überhandnehmen, werden von druckvollen Drums und harten Gitarren rotzig weggewischt. Gleich Titel Nummer Zwei (‚Everything‘) tönt ungewohnt rockig aus den Boxen. Zwar kennzeichnet speziell der erdige Sound ihr drittes Werk ‚Man‘, doch eine derartig knackige, gut abgemischte Bühnenumsetzung überrascht. Auch ihre modische Kleidungswahl läßt den Betrachter zweimal hinschauen. Frau Cherry trägt eine üderdimensionale Latzhose, darunter nur einen schwarzen BH und nackte Haut. So beschürzt, hüpft, springt und schreitet sie auf der Bühne hin und her, ihre blondgefärbten Locken fliegen dabei wild um das vom blauen Lidschatten beherrschte Gesicht. Fast fragt man sich, wie die in London und Spanien lebende Weltenbummlerin wohl herumtobt, wenn sie keine durchzechte Nacht hinter sich hat. Doch dazu lassen sie und ihre gut eingespielte sechsköpfige Begleitband, dem Betrachter keine Zeit. Plötzlich kniet sie auf dem Boden, den Mikrophonständer wie zum Gebet gefaßt und singt ergreifend von Tod und Verlust. In ‚Carry Me‘ nach dem Tod ihres Stiefvaters Don Cherry geschrieben – beschwört sie in weiches Licht gehüllt als Geist die Hinterbliebenen. „Das Leben muß weitergehen“, lautet die Botschaft und genau daran hält sich auch Neneh Cherry. Unbeirrt geht die in Stockholm geborene Sängerin ihren Weg, weg vom „smart chick pop“-Image der ‚Buffalo Stance‘-Zeiten. Konsequent läßt sie ihren ersten Hit aus und baut den Set homogen um die Stücke der aktuellen LP.
„Ich scheine einige Männer mit meinem Auftreten ziemlich zu erschrecken“, gab sie kürzlich im Interview zu Protokoll. An diesem Abend ist dieses Phänomen nicht präsent. Die anzügliche Nummer ‚Kootchi‘ benutzt die Cherry dann auch sofort zum heftigen Flirt mit dem männlichen Publikum. Bereitwillig melden sich die Herren auf diese Aufforderung hin, in Nenehs vordere Hosen-Beuteltasche zu schlüpfen. Im Hintergrund schmunzelt der Backgroundsänger. Es ist kein Geringerer als ihr Lebensgefährte und Produzent Booga Bear. Die zwei teilen sich also nicht nur Bett und Studio, sondern auch die Bühne. Und auch die Kids sind on the road mit dabei. So sieht das Familienleben einer unabhängigen, erfolgreichen Frau der 90er Jahre aus. Fazit: Hut ab Mrs. Cherry, Sie sind eine Klasse für sich, auch mit einem kleinen hangover.