Nachruf auf Quincy Jones: Er holte das Maximum heraus
Der begnadete, unfassbar produktive Jazz-Trompeter, Platten-Millionär, Musik- sowie Filmproduzent und Lebemann ist mit 91 verstorben.
Es gab schon mal eine Trauerfeier für Quincy Jones, 1974 in Los Angeles. Marvin Gaye, Ray Charles, Minnie Riperton, Sarah Vaughan und viele andere Stars des Jazz und des R&B traten auf. Quincy Jones war auch anwesend, als Überlebender. In seinem Gehirn war ein Aneurysma geplatzt, mit 41, und während der fast achtstündigen Not-Operation hatte sich herausgestellt, dass noch eine zweite Arterie in seinem Kopf lebensgefährlich geweitet war. Die Ärzte gaben ihm kaum eine Chance. Also organisierten seine Freund:innen schon ein Konzert für seine Beerdigung – und sagten es nicht ab, als er es doch schaffte. Da saß er dann also, zwischen vielen Erleichterten, und sein Neurologe war mitgekommen. Der sagte: „Du darfst dich nicht so viel aufregen, vor allem solltest du nie wieder Trompete spielen. Wegen des Drucks im Kopf.“
Er brachte sie alle zusammen
„Q“, wie die meisten ihn nannten, blies die Trompete danach tatsächlich nie wieder, wobei man nicht sagen kann, dass dies seiner Karriere einen Dämpfer verpasste. Eher im Gegenteil: Er drehte erst recht auf, brachte als Produzent von George Benson, Rufus & Chaka Khan, Donna Summer, vor allem aber von Michael Jackson die Welten des Jazz und des Pop zusammen wie nie, verband klangliches Qualitätsdenken mit Melodien und Sounds, die in den Charts super ankommen, brach kommerzielle Rekorde. Auf Michael Jacksons Alben „Off The Wall“, „Thriller“ und „Bad“ wird gleich einzugehen sein. Zunächst: Der Benefiz-Song „We Are The World“, den er 1985 initiierte und für den er fast fünfzig Popstars – unter ihnen Michael Jackson, Cindy Lauper und Bruce Springsteen – zusammentrommelte, spielte mehr als 60 Millionen US-Dollar für die Afrika-Hilfe ein. Ein Jahr später produzierte er den Kinohit „Die Farbe Lila“, der Whoopi Goldberg zum Star und, in einer Nebenrolle, Oprah Winfrey außerhalb der USA bekannt machte.
So betrachtet holte Quincy Delight Jones jr. – so hieß er mit vollem Namen, und besonders schön daran ist natürlich das „Delight“, das Vergnügen – also nach seiner Hirnblutung wirklich noch einmal das Maximum aus seinem Leben heraus. Und entfernte sich dabei weitestmöglich von den Gegebenheiten seiner Kindheit. Geboren 1933 in Chicago, Illinois, war er in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen. Er und sein Bruder hätten manchmal gebratene Ratten aufgetischt bekommen, die sie vorher selbst fangen mussten, berichtete er. Sein Vater war Schreiner und baute in der South Side von Chicago Häuser im Auftrag einer berüchtigten Schwarzen Gang. Seine Mutter litt an Frühdemenz und kam, als er sieben war, nach einer psychotischen Krise in eine geschlossene Einrichtung. „Danach habe ich die Musik zu meiner Mutter gemacht, und sie hat mich nie im Stich gelassen“, sagte er in einem Interview.
Als Teenager blies er sich als Trompeter in die Big-Bands der Jazz-Legenden Lionel Hampton und Dizzy Gillespie, für die er bald auch komponierte, arrangierte, dirigierte. Der Weg zum Erfolg im Jazz führte in den 1950er-Jahren meist über Europa, nicht selten gesponsert vom amerikanischen Außenministerium. Jones verbrachte als junger Mann so viel Zeit in Europa. 1957 begann er am Pariser Konservatorium Unterricht bei der berühmten Kompositionslehrerin Nadia Boulanger zu nehmen, er entdeckte Strawinsky und Ravel für sich. Aus diesem Kapitel ist von der Musikkritik später oft eine große Sache gemacht worden, à la: Ein Schwarzer Musiker, der die europäische Hochkultur für sich entdeckt! Jones sah es eher andersherum: „Afrikanische Musik ist im Westen immer als primitiv und wild angesehen worden, aber wenn man sich in Ruhe mit ihr auseinandersetzt, erkennt man, dass sie genauso strukturiert und hoch entwickelt ist wie die klassische europäische Musik.“ Für ihn gab es nie einen Zweifel, dass das, was er machte, afrikanische Musik war: „Die Wurzeln von Gospel, Blues, Jazz, Soul, R&B, und Rock’n’Roll lassen sich bis nach Afrika zurückverfolgen“, schrieb er.
Wie vielseitig sein Genie war, wie unträglich sein Gespür für opulent ausgestaltete und doch transparente Arrangements, für catchiness in der Melodie, zeigt sich, wenn man zwei seiner Produktionen gegeneinanderhält: „Big Band Bossa Nova“, das Album, mit dem er sich 1962 an der gerade um die Welt schwappenden Welle brasilianisch swingender Musik beteiligte, und „It’s My Party“, der Bubblegum-Pop-Hit, den 1963 die damals gerade 17-jährige Lesley Gore sang, „and I’ll cry if I want to!“ Hier herrlich schunkelnde und rasselnde Percussions-Batterien und schmatzigste Posaunen, dort überzuckerte Teenage-Unschuld auf einem stoischen Beat. In den Bläser-Sätzen kann man hören, dass derselbe Produzent dahinter steckte. „It’s My Party“ wurde für die Plattenfirma Mercury, bei der Jones als A&R-Manager arbeitete, zu einem so großen Erfolg, dass er 1964 zu deren Vizepräsidenten befördert wurde. Er war der erste Afroamerikaner in einer so hohen Position bei einer von Weißen geführten Plattenfirma.
Der Jazz-Mann in den Charts
Später dann: Michael Jackson. Als der Ende der Siebzigerjahre sich von seinem ungeliebten Image als Kinderstar befreien und als Solo-Künstler einen eigenen Sound finden wollte, war Quincy Jones sein Wunschkandidat. Jacksons Plattenfirma war schockiert, Jones galt zu der Zeit noch nicht als Charts-Gigant, sondern als Jazz-Mann. Jackson setzte sich aber durch, wobei Jones mit Jacksons Stimmumfang unzufrieden war. Jackson musste erst einmal mit einem Gesangstrainer eine halbe Oktave oben und unten hinzugewinnen. „Um mehr Dramatik in die Sache reinzubringen“, wie Jones sagte.
Die drei Alben, die er für Jackson produzierte – „Off The Wall“ (1979), „Thriller“ (1982) und „Bad“ (1987) – sind so perfekt, dass sich Pop-Produktionen bis heute an ihnen messen lassen müssen. Anfangs noch klar am Disco-Sound orientiert, hochpoliert, entwickelten Jackson und Jones später mit Songs wie „Thriller“ und „Bad“ einen Hybrid aus Funk und Rock, Synthie-Attacke und geballter Faust. Musik, bei der man nun gar nicht mehr sagen konnte, ob sie schwarz oder weiß sei, ob sie hart oder soft klang. Alles auf einmal. „Thriller“ ist bis heute das meistverkaufte Pop-Album der Welt, mit inzwischen knapp 70 Millionen Kopien.
Ein hübsches Detail ist, dass Jones in den Liner-Notes des „Thriller“-Albums einem gewissen Bikram Choudhury dankte. Nach seinem Aneurysma war er zum Yoga-Junkie geworden. In den hochgeheizten Bikram-Schwitzräumen wrang er sich 15 Jahre kang täglich den Stress aus dem Körper, vielleicht auch den Schock über die erlebte Todesnähe. Es gebe in seinem Leben „körperlich und spirituell nichts Wichtigeres mehr“, sagte er. Was geflunkert war. Denn abgesehen davon, dass er im Studio ein Workaholic blieb, gab es noch etwas viel Wichtigeres als Yoga: Frauen. Zwischen 1953 und 1993 zeugte Quincy Jones mit fünf Frauen sieben Kinder, sechs Töchter und einen Sohn. Wenn er nicht gerade mal wieder mit seinem Freund Frank Sinatra, den er 1958 in Monaco kennengelernt hatte, in dessen Privatjet für eine Nacht nach irgendwohin verschwand, mit sechs Playboy-Bunnys im Gepäck, war er Ehemann. Er war dreimal verheiratet, unter anderem mit der „Twin Peaks“-Schauspielerin Peggy Lipton und mit Nastassja Kinski.
Hatte sich nicht beklaut, sondern verstanden gefühlt
Was er mit verschmitzter Gelassenheit nahm: Als Rapper wie Mobb Deep, Nas oder auch Dr. Dre anfingen, seine alten Big-Band-Platten zu samplen. Er fühlte sich nicht beklaut, sondern verstanden. Viele aus seiner Generation fanden keinen Zugang mehr zu dem neuen Musikgenre, Sprechgesang auf Beats, das heute die Popkultur dominiert – obwohl sich seine Wurzeln ja genauso wie die des Gospel, Blues und Jazz nach Afrika verfolgen lassen, siehe oben. „Ich sehe eine Verbindung zwischen HipHop- und Bebop-Künstlern. Beide mussten ihre eigene Sprache erfinden nach dem Motto: ‚Wenn ihr uns nicht an eurer Kultur teilhaben lasst, dann machen wir eben unsere eigene‘“, sagte Jones. Für sein letztes Studio-Album „Q Soul Bossa Nostra“ (2010) arbeitete er mit Rappern zusammen – Snoop Dogg, T-Pain, Ludacris, Talib Kweli. Es war nicht sein gelungenstes Werk, aber ein weiterer Beweis dafür, we vielseitig und bestens vernetzt der motherfucker immer noch war. Das Wort liebte er. In einem legendär gewordenen Interview mit dem „GQ Magazine“ aus dem Jahr 2018 benutzte er es sage und schreibe 89 Mal.
„Wenn das Leben ein Acht-Gänge-Menü ist, dann bin ich beim Nachtisch und der Fingerschale angekommen“, schrieb er in seiner Autobiografie. Am 3. November ist der begnadete und unfassbar produktive Jazz-Trompeter, Platten-Millionär, Musik- und Filmproduzent, Philantrop und Lebemann Quincy Jones im Alter von 91 Jahren verstorben. Auf Erden hat er seinem zweiten Vornamen Delight wirklich jede Ehre gemacht. Beim Willkommenskonzert für ihn auf der anderen Seite werden so viele Stars, mit denen er einst arbeitete und deren Karrieren er protegierte, ein Ständchen für ihn singen, dass es die irdische Vorstellungskraft schlicht sprengt.