Mut zum Scheitern: Warum Die Ärzte auch heute noch Eltern zur Verzweiflung bringen
Substitutionstherapie mit Britpop-Antikörpern: Wissenswertes aus der Musikerziehung. Die Hirnflimmern-Kolumne von Josef Winkler aus dem ME 03/2023.
„Du bist wunderschön.“ Steht da ganz ungefragt als Begrüßung auf der Website. Äh. Danke für die Blumen, aber Sie sollten mich mal von hinten sehen! Und tut’s denn überhaupt was zur Sache, wo ich doch nur ein paar Lernmaterialien für meine Tochter runterladen möchte? Aber ich soll hier wohl „empowert“ werden. Der Lizzo-Komplex: „Ich muss dich empowern – Widerstand ist zwecklos!“ Und weiter geht’s mit der Turbo-Achtsamkeit: „Forgot your padlet password? Don’t worry, it happens to the best of us.“ Was soll das heißen? Etwa: „It happens to the best of us, da wundert es mich kein Stück, dass ein Depp wie du das auch versaubeutelt“?
Na, vielleicht denk ich auch zu negativ und bin die falsche Zielgruppe. Fakt ist: Ich brauche keine hohlen Nettigkeiten, ich brauche effektive Hilfe, und zwar schnell. Kinder schleppen einem ja alles Mögliche ins Haus. Und kaum ist RSV mal halbwegs durch, haben wir jetzt wieder eine Ohrwurmplage daheim. Alles singt, summt, pfeift dieses verdammte „World’s Smallest Violin“ vor sich hin; überall klebt dieser ja bereits nach kurzer Zeit völlig abgenutzte Ohrwurm, und der Siebenjährige fängt jetzt auch noch mit „Goodbye Hollywood Hills“ an! Herrgott, wo haben die diesen Mist her? Ich muss das Zeugs rauskriegen, wenigstens aus dem Wohnbereich.
Ein klassisches 80er-Jahre-Problem
Da hilft nur Substitutionstherapie mit Spitzenmusik – es müssen potente Ohrwürmer freigesetzt werden, die dann ganz organisch die unerwünschten Melodien zersetzen und rückstandsfrei abbauen. Ich brauch die Sonic Kammerjäger. Die Beatles müssen ran! Oder, warte – mal was Neues probieren: The Beautiful South! Paul Heaton, Pop-Gott! Eigentlich unfehlbar, möchte man meinen, aber der Stoff erweist sich als zu schwach, der Befall ist wohl schon zu gravierend. Also weiter runterscrollen in iTunes – da, ich hab’s: Blur! Bingo. Und es schlägt tatsächlich wunderbar an, nach ca. 175 Durchläufen von „Charmless Man“ und „Country House“ in 48 Stunden sind wir alle auf dem Weg der Besserung.
In Sachen Kinder und Popmusik hab ich übrigens noch ein klassisches 80er-Jahre-Problem im Haus: Die Buben finden neuerdings Die Ärzte gut. In den 80ern war das ein Konfliktfeld wegen Witzliedern über Inzest und Sodomie, heute ist die Sache komplexer: Dem Älteren hat es vor allem Belas „Lied vom Scheitern“ angetan, und er scheint geneigt, die Refrainzeile „Du bist immer dann am besten, wenn’s dir eigentlich egal ist“ im Angesicht der bevorstehenden schulischen Herausforderungen als Lebensphilosophie verinnerlichen zu wollen.
Dieser Satz hat Sprengkraft, und mit „Mach den Schweinkram aus!“ ist es da nicht getan, da muss man mit Textexegese kommen. Wir bleiben dran. Für den Moment hab ich jedenfalls gewonnen: Im Wohnzimmer sitzen 3 kleine Paschas im Grundschulalter, spielen ein Brettspiel(!) und hören … Gorillaz! Dass die Hausapotheke immer noch ein paar Mittelchen auf Lager hat, gegen die es noch keine Resistenzen gibt: Ich find’s wunderschön.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 03/2023.