Mit dem Motto „Where Blues Crosses Over“ hat sich Ruf Records zu einem der heißesten unabhängigen Roots-Labels der Welt entwickelt.
Könnt ihr mal ’n biiißchen leiser machen? Bitte?!“ Grit Bierwisch lächelt freundlich. Das spricht für fast übermenschliche Selbstbeherrschung: Seit zwei Stunden wählt ME/Sounds mit Label-Chef Thomas Ruf und Kollege Didi Tewes leidenschaftlich Tracks für die CD im ME aus. „Geile Nummer. Ist gekauft!“ „Ja, aber kein Opener, oder? Mach‘ nochmal den Anfang.“ Und so weiter, alles bei 70 db. Als „Assistant to Director“ hat Grit dauernd das Telefon in der Hand und sollte zumindest hören können, ob die Anrufe auf Deutsch, Englisch oder Französisch beantwortet werden müssen. Ruf Records hat sich einen festen Mitarbeiterstamm in Europa und den USA aufgebaut (Fadenzieher jenseits des Atlantiks sind Teampartner Ira Leslie und Santana-Produzent Jim Gaines) und gehört zu den wichtigsten eigenproduzierenden Blues-Labels auf dieser Erdkruste. Walter Trout, die Woodstock Veteranen Canned Heat und Grammy-Nominee Luther Allison haben hier neben anderen exklusive Verträge unterschrieben, im „blauen“ Geschäft der 12-Takt-Schemata ist Thomas Ruf mit seinem Label stark vertreten. Und das Delta, das Nervenzentrum dieses globalen Unternehmens ist nicht etwa New Orleans, sondern Lindewerra. Lindewas? Werra. So heißt der örtliche Mississippi, der plätschernd Thüringen von Hessen trennt. Hier in Lindewerra, im ehemaligen deutsch-deutschen Grenzgebiet, leben heute 250 Menschen in Fachwerkhäusern rund um die kleine Kirche und genießen die ländliche Idylle. „Ich bin nicht wirklich ein Stadtmensch“, meint ein ausgeglichener Ruf in seinem selbstrestaurierten Bauernhaus. Mindestens einmal im Monat nimmt er gerne drei Stunden Anfahrtszeit zum Flughafen Frankfurt in Kauf, dort beginnen seine regelmäßigen Reisen zu den Vertragspartnern. „Ich treff mich so oft es geht mit den Künstlern oder schau mir ihre Konzerte an. Wir sind ein kleiner Betrieb, und deshalb können wir engen persönlichen Kontakt zu den Musikern halten“. Menschen sind es, die für Thomas Ruf im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen, das Geschäftliche läuft professionell, aber nebenher. Die zentrale Figur, mit der alles begann, ist die Blueslegende Luther Allison. „Seine Präsenz war unglaublich beeindruckend“, meint Ruf, dessen Küchengasherd mit zwei „Luther!“-Aufklebern geschmückt ist. „Von ihm haben wir unsere Arbeitsweise gelernt“, meint er und erzählt bewegt, daß Allison 1997 wenige Tage vor seinem Tod noch die Umgebung mit seiner Energie elektrisierte: „Er hat durch den Gehirntumor teilweise schon doppelt gesehen und stand noch jeden Abend auf der Bühne.“ Als 19 jähriger Schüler hatte ein organisationswütiger Ruf Mitte der 80er in einem plötzlichen Anfall von Übermut Luther Allison für ein Konzert in der Stadthalle Ettenheim (bei Freiburg) gebucht, ein Abend mit verschiedenen Konsequenzen: „Finanziell war das so ein Debakel, daß ich vier Wochen lang in der Fabrik arbeiten mußte“, erzählt Ruf grinsend. Gleichzeitig begann aber auch eine wertvolle Zusammenarbeit: Mit zunehmender Erfahrung wurde Ruf Allisons Agent und gründete 1994 eigens für ihn sein Label. „Wir haben es geschafft, Luther in Amerika wieder groß zu machen. Er war kurz davor, einen Status wie B.B. King zu erreichen“, erklärt Ruf – nachzuprüfen ist das auf dem aktuellen Release „Live in Chicago“. „Wir sind ein kleines Label, aber wir betreiben Aufbauarbeit. Wird ein Künstler sehr erfolgreich, wandert er vielleicht zu einem Major ab. Wir sind dann nicht beleidigt, sondern stolz.“
CANNED HEAT – Wait And See (2:47)
„Going up the Country‘ krähten Canned Heat in Woodstock 1969 über eine Küchenradio-PA und schoben dafür die dritthöchste Gage nach Hendrix und Joplin ein. 1966 gegründet war die Band zusammen mit Grateful Dead und Jefferson Airplane in San Francisco treibende Kraft in der Psychedelic Hippie Aera und hat sich erstaunlicherweise in wechselnden Besetzungen über die Jahrzehnte gerettet. „Boogie 2000″ heißt ihr aktuelles Ruf-Album, für das in Robert Lucas ein stimmlich hervorragender Ersatz für den verstorbenen Bob Hite gefunden wurde.“Wait And See“ ist der flötengetriebene Opener und gleichzeitig Programm für die CD im ME.
WALTER TROUT – Prisoner Of A Dream (5:15)
Die britische BBC listete den Wahlkalifornier aus New Jersey einst als den sechstbesten Gitarristen aller Zeiten. Gerechtfertigt oder nichteinen Namen hat sich Trout jedenfalls als hochrespektierter Begleitmusiker von Größen wie John Lee Hooker, Canned Heat und John Mayall (Trout war fast fünf Jahre lang offiziell ein Bluesbreaker) gemacht, seit 1990 arbeitet er erfolgreich an seiner Solo-Karriere. Er lebt in Huntington Beach in Orange County unweit von The Offspring, und sein aktuelles Album „Livin‘ Every Day“ entstand unter Aufsicht des Santana/Blues Traveler/Stevie Ray Vaughan-Produzenten Jim Gaines.
AYNSLEY LISTER – Angel’O’Mine (4:56)
Walter Traut bescheinigte ihm „Reife, die weit jenseits seines Alters“ sei, Lister ist erst Anfang 20. Der Vergleich zu Jonny Lang drängt sich auf, und Lister kann standhalten: Sein Songwriting und Gitarrenspiel sind altersunabhängig bemerkenswert, die Stimme ausbaufähig. Nach mißglückten Versuchen mit Gitarrenlehrern studierte der Engländer aus Leicester im Alter von zehn auf eigene Faust reihenweise Gitarrensoli von Eric Clapton, später orientierte er sich primär an Stevie Ray Vaughan und hat als Teenager bereits mit Buddy Guy, Walter Trout und Bernard Allison auf der Bühne gestanden. Sein von Jim Gaines produziertes Album „Aynsley Lister“ präsentiert eine vielseitige Mischung aus Blues und Rock, Favorit für die CD im ME war die soulvolle Ballade „Angel’O’Mine“.
ERIC BIBB – Livin‘, Lovin‘ An Doin‘ (3:50)
Bob Dylan und Joan Baez waren ständige Gäste im Folk- und Musiktheater von Leon Bibb im New York der 50er Jahre. In dieses kreative Umfeld in Greenwich Village wurde 1951 Leons Sohn Eric geboren, und was lag da näher als eine musikalische Karriere? Sein Stil ist sensibel und besonnen, er steht dem Blues so nah wie Foik und Cajun. Der minimalistische Dylan selbst riet ihm einst: „Keep it simple,forget all that fancy stuff“, und so ist sein Ruf-Debüt „Home To Me“ über weite Strecken akustisch eingespielt. Der New Yorker Hektik hat sich Bibb musikalisch wie privat längst entzogen, der Afro-Amerikaner lebt seit einiger Zeit in Schweden.
JIMMY JOHNSON The Street You Live On (5:11)
Rund 50 Jahre trennen die Ruf Recording Artists Aynsley Lister und Jimmy Johnson. Letzterer hat seinen ersten regulären Longplayer aufgenommen, als er bereits ein halbes Jahrhundert auf dem Planeten weilte. Nach seiner Kindheit in Holly Springs in Mississippi sang und spielte er für diverse Gospel-Chöre in Memphis und Chicago, einer seiner Haupteinflüße wurde neben Otis Rush und Freddy King das spätere Mitglied der Blues Brothers Band Matt ‚Guitar‘ Murphy. Ende der 70er kam mit dem Solo-Debüt auch die Grammy Nominierung. Johnsons Anerkennung wächst mit zunehmendem Alter beständig.
BERNARD ALLISON – Don’t Be Confused (5:02)
Ist der Vater ein Fluch oder Segen? Natürlich wurde dem 34jährigen Bernard Aufmerksamkeit zu Teil, bevor er auch nur eine blaue Note spielte. Vielleicht deshalb ringt er mit jedem Solo, mit jedem Riff, mit jedem Aufschrei mit der Übermacht Luthers. Dabei steht fest, daß der Filius aus Chicago Eigenes beizutragen hat: In der Grundschule spielte er bereits mit der High School Jazz Band („Sie dachten, ich wurde vom Blatt spielen, in Wirklichkeit spielte ich nur nach Gehör“). In Sessions mit Willie Dixon und Johnny Winter fand er zum eigenen Stil, heute kämpft er um Luther-unabhängige Anerkennung, auch wenn „Don’t Be Confused“ dem Vater gewidmet ist und kurz nach dessen Tod entstand.
JAMES SOLBERG – LA. Blues (6:05)
LA steht hier ausnahmsweise nicht für die 15 Millionenmetropole an der kalifornischen Küste, sondern für Luther Allison. James Solberg war über viele Jahre in der US-Begleitband von Luther und hat einen Großteil der Songs mit dem Meister komponiert. In seinem Lebenslauf braucht er heute nicht mehr ausdrücklich betonen, ein Zweifamilienhaus mit Robert Zimmermann (Bob Dylan) in Minnesota geteilt zu haben, sein Gitarrenton ist mittlerweile rotzig, soulful und gewichtig genug, um für sich selbst zu sprechen. Seine Stimme klingt rockig und kraftvoll, „LA. Blues“ ist alles andere als eine belanglose Bluesplatte.
LUTHER ALLISON – Cherry Red Wine (Watching You) (live) (8:36)
Halleluja! Wie ein mächtiger Geist spukte diese freundliche Seele bereits durch die vorangestellten Zeilen, hier ist er endlich in persona. „Am Nachmittag lag Luther immer mit halb geschlossenen Augen im Hotelbett, bei Sonnenuntergang bewegte sich langsam was, und Backstage wurde er richtig wach. Aber erst als er sich die Gitarre umhängte, ging ein Ruck durch ihn, und wenn er mit schnellen Schritten auf die Bühne kam, hatten 1000 Leute eine Gänsehaut“, erzählt Luthers Freund Thomas Ruf, der die vier Stunden dauernden Shows des charismatischen Performers öfter erlebt hat, als irgendjemand sonst. „Cherry Red Wine“ ist der Song, mit dem sich der W.C. Handy Award Gewinner und Grammy Nominee selbst wohl am besten repräsentiert fühlt. Der Song wurde 1995 zwei Jahre vor seinem Tod beim Chicago Blues Festival aufgenommen.
FRIEND ‚N FELLOW – I Gave It All (4:13)
Studierte Musiker sind in diesem Geschäft rar, die Immatrikulationsnummer gilt nicht unbedingt als modernes Äquivalent zum Baumwollfeld. Constanze Freund und Thomas „Fellow“ Günther waren beide Studenten der Musikhochschule in Weimar, haben sich als Support-Acts von Al Jarreau und Luther Allison aber international einen Namen gemacht. Wie Tuck & Patti treten die beiden seit 1991 als von Kritikern international viel gelobtes Duo auf. Ihr Song „I Gave It All“ wurde in der Dorfkirche in Lindewerra zusammen mit Luther Allison als Produzent aufgenommen.
STAVIN‘ CHAIN – El Guapo (3:35)
Gitarrist und Sänger Grayson Capps aus Fairhope in Alabama schleift den Southern Rock zurück zu den Roots. Aus seiner Heimat zog es den Student der Theaterwissenschaften in den Süden, von seiner Veranda in New Orleans überblickt er heute den Mississippi. Auf seine einfachen und kraftvollen Songs stehen unter anderen die Wallflowers und Jeff Buckley, produziert wurde ihr Ruf-Debüt von Sonderling John Mooney zusammen mit Thomas Ruf. „El Guapo“ auf der ME-CD klingt wie eine blutdrucksenkende Mischung aus ein bißchen Santana, ein bißchen Everlast und Kuba. Right on, dude.
SPOOKY TOOTH – Tears (5:02)
Entspannt geht’s weiter mit feinstem Balladenmaterial von Alt-Legende Spooky Tooth. 30 Jahre nachdem sie mit dem Platinalbum „Spooky Two“ Bluesrock-Maßstäbe gesetzt haben, ist es Thomas Ruf und Bob Laul gelungen, die Herren in Originalbesetzung (nur ohne KeyboarderGary Wright) nach Weimar (!) zu holen, um dieses überraschende und würdevolle Album „Cross Purpose“ einzuspielen.“Es ist eigentlich ein Wunder, daß es diese Platte überhaupt gibt“, grinst Ruf immer noch kopfschüttelnd. Die Stimmbänder von Ausnahmesänger Mike Harrison sind immer noch beeindruckend, und für den Spaß, der bei einem solchen Projekt im Vordergrund stehen sollte, spricht, daß die gealterten Herren vor Begeisterung gleich eine (bei Redaktionsschluß charmanterweise nicht funktionierende) Website (www.spookytooth.com) ins Netz gestellt haben.
JAMES HUNTER – It’s Easy To Say (3:35)
Hunter ist noch keine 40, hat aber ein Faible für R’n’B der 50er und 60er Jahre. Faszinierend ist zum einen die Authentizität, zum anderen das Selbstbewußtsein, mit dem der Ex-Van Morrison Gitarrist heute seine Sam Cooke-/Otis Redding-Style Songs vorträgt. Die fünfte LP des Engländers „Kick It Around“ besticht durch perfektes Songwriting. Sie ist eine moderne „Oldie“-CD, die, wäre sie damals eingespielt worden, heute als Klassiker gehandelt werden würde.
THE PALADINS – Gone Again (2:27)
Von anachronistischem Soul zu ebensolchem Rock-a-billy. Die Combo aus San Diego spielt (nach vergangenen Grunge-Ausflügen wieder) Surf-Instrumentals, Hillbilly und originalen Rock’n’Roll, das kompositorische Talent der Tollenträger rettet sie mit diesem Sound in die 90er. Das Trio präsentiert sich abwechslungsreicher als die meisten Genre-Kollegen und zeigt vor allem extreme Beständigkeit: Mit „Slippin‘ In“ bringen die Paladins ihr sechstes Album auf den Markt. „Gone Again“ ist feinster Country & Western Rock nach dem Ruf-Motto „Where Blues Crosses Over“.
KEVIN COYNE – Sugar Candy Taxi (2:41)
Bombastischer Psychopathic-Pop aus England am Ende der ME/Sounds-CD. Coyne ist ein seltsamer Poet, der kurzzeitig als Doors-Frontmann nach Morrisons Tod im Gespräch war und in seinen 55 Jahren auf dieser Erde alles von der Arbeit in der Psychiatrie und Drogenrehaklinik bis zum Nervenzusammenbruch 1981 durchgemacht hat. Seit 1985 lebt Coyne in Nürnberg (nach einem zweiwöchigen Entspannungsurlaub 1985 vergaß er, nach Hause zu fahren), schreibt Bücher, malt und nimmt sperrige und gruselig interessante Musik auf. Im Falle von „Sugar Candy Taxi“ sogar ein ganzes Album in lediglich zwei Tagen.