Melissa Etheridge


In der Welle der wohlklingenden Weiblichkeit will sie nicht mitschwimnten - eher fühlt sie sich da schon der emotionalen Selbstzerfleischung einer Janis Joplln verpflichtet. ME/Sounds-Mitarbelter Steve Lake spielte In Amsterdam den Voyeur.

Manchmal werden wir richtig verwöhnt. Wie etwa auf diesem Grachtendampfer: Links Rembrandts Geburtshaus, meine Damen und Herren, rechts das See-Museum, vielleicht noch ein Häppchen oder einen Drink?. Wir befinden uns auf dem Weg zu einer noch größeren Party (noch mehr Häppchen), auf der BRAVE AND CRAZY, das zweite Album von Melissa Etheridge, vorgestellt werden soll. Vor einem Jahr noch löste ihr Name keinerlei Reaktionen aus. Eine Grammy-Nominierung später darf sich die Sängerin aus Kansas freuen, von ihrer Plattenfirma als „Schwerpunkt“ eingestuft zu werden. Daher die Einladung. Ziemlich weiter Weg, nur um eine Platte zu hören. Aber halt… was ist das? Die Lichter gehen aus, der Vorhang öffnet sich – und da steht sie höchstpersönlich, eine dreiköpfige Band im Rücken. „Surprise, surprise“, grummelt sie heiser ins Mikro. „Ich hab von dieser Party gehört und dachte, ich komm rüber und spiel die Sachen selbst vor.“

Gesagt, getan. Sie arbeitet sich durch das neue Repertoire (die Single gibt’s zweimal), bearbeitet ihre 2 Saiten wie ein Perkussions-Instrument, zieht eine Mundharmonika aus der Tasche, schüttelt das Haar und röhrt los.

Mädchen mit Gitarren gibt’s derzeit in rauhen Mengen, aber Etheridge schwimmt nicht auf der folkloristischen Welle mit: Sie ist Rock’n’Roll, in seiner ganzen Drei-Akkorde-Herrlichkeit, Janis Joplin näher als Tracy Chapman. Wie Joplin trägt sie in ihren Songs emotionale Wunden wie Juwelen, schmückt sich mit Leid.

Während Joplin aber starb und so ihrem Mythos gerecht wurde, bleibt Etheridge auf Distanz zu der Tragik ihrer Heldinnen. Die emotionale Intensität ihres Auftritts ist überzeugend, letztlich aber nur die Neuinszenierung längst verheilter Wunden.

„Oh, ich werde nicht drauf gehen“, sagt sie anderntags. „Ich habe zu hart gearbeitet, um jetzt alles wegzuschmeißen.“ Und im Gegensatz zu diversen „Ich-und-der-Gin“-Passagen auf BRAVE AND CRAZY nippt sie beim Interview nur Perrier. Verglichen mit ihrer hemdsärmeligen Bühnen-Persönlichkeit wirkt sie nun schmaler, kleiner, fast mäuschenmäßig scheu. Hat sie sich innerlich abschotten müssen für diesen Interview-Marathon?

„Nun ja, das gehört nun mal dazu, oder? Ich mache mir halt immer wieder klar, daß auch Kritiker ihren Job nur machen, weil sie Musik lieben.“

In deinen Songs betreibst du ausgiebig seelische Schürfarbeit. Hast du manchmal Angst, zuviel preiszugeben?

„Nein, soweit ist es bisher nicht gekommen. Als ich anfing, zuckte ich noch davor zurück, meinen emotionalen Ballast auf ein unschuldiges Publikum abzuladen, deshalb versteckte ich meine Songs zwischen Cover-Versionen. Ich dachte, daß die Leute es dann vielleicht für eine Nummer von Joan Armatrading oder so halten. Aber dann merkte ich: Je mehr ich mich in den Texten entblößte, desto stärker reagierten die Leute, desto öfter kamen hinterher Zuschauer, die sagten: dieser Song hat meine Gefühle, meine Erfahrungen exakt wiedergegeben‘.“

Der interessanteste Song auf BRAVE AND CRAZY ist für mich „The Angels“, geschrieben in einem kleinen Hotelzimmer in England“. Ein trotziger Song mit der Aussage „Wenn die Götter uns nicht mögen, müssen wir selber sehen, wie wir zurechtkommen“. Eine Philosophie, die Melissa gut brauchen konnte, als Island-Chef Blackwell die erste Version ihres Debüt-Albums ablehnte.

„Ich hatte keine Ahnung von Studioarbeit, halte noch nicht mal mit einer Band gespielt. Auf einmal gab es Session-Musiker und einen Produzenten, der endlose Sound-Schichten auftürmte. Und ich dachte: Vielleicht muß man eine Platte so machen. “ Blackwells Kommentar: “ Vergiß es! So hat Melissa Etheridge nicht zu klingen.“

Island setzte einen neuen Termin an, vier knappe Tage, in denen sie die Sache richtig machen oder es sein lassen sollte. Wie wir wissen: Sie machte es richtig.