„MEIN CHAOS LÄUFT MIT MILITÄRISCHER PRÄZISION AB!“
Kentish Town im Norden Londons. Pete Doherty sitzt im Apartment seines Managers, raucht Lucky Strikes und trinkt Tee. Als ich ihn das letzte Mal traf, hockte er auf dem Bett seiner desolaten Londoner Wohnung, rauchte Crack aus einer Miniatur-Flasche Bailey’s und fragte sich, „wie er bloß in diesen Scheiß reingerutscht“ sei. Wir schrieben das Jahr 2006 – und Doherty war nur noch ein Häufchen Elend: Seine Beziehung zu Kate Moss stand endgültig auf der Kippe – und auch seine Post-Libertines-Band Babyshambles pfiff aus dem letzten Loch. Der Plattenvertrag war futsch – ebenso wie der Gitarrist, der gerade im Knast saß. Nachdem er 2009 seine Zelte in Paris aufgeschlagen hatte, wo er seinen Drogenkonsum zwar „reduzierte“, aber nicht einstellte, ist das Leben des legendärsten englischen Junkies -„the last of the rock’n’roll romantics“ – inzwischen etwas ruhiger geworden.
Zwei Gründe verschlugen ihn nach Paris: Zum einen wollte er sich als Schauspieler versuchen (in dem französischen Kostümfilm „Confessions Of A Child Of The Century“, 2012 veröffentlicht), zum anderen den Paparazzi und Polizisten entkommen, die sein Leben in London unerträglich gemacht hatten.
Das Jahr 2011 wartete allerdings gleich mit zwei neuen Krisen auf: Seine Busenfreundin (und gelegentliche Bettgenossin) Amy Winehouse starb – und Doherty wurde wegen Kokainbesitzes zu sechs Monaten Haft verdonnert. Die Verhaftung war umstritten, da Nebenprodukt einer polizeilichen Untersuchung, die Licht in den Tod seiner langjährigen Freundin Robyn Whitehead bringen sollte. Die 27-jährige Millionen-Erbin und Filmemacherin starb an einer Überdosis Heroin – und zwar genau in der Londoner Wohnung, in der sie an einem Dokumentarfilm arbeitete, der auch Aufnahmen eines Crack rauchenden Doherty zeigte. Die englischen Revolverblätter – „kranke Schweine“ in seinen Augen – zögerten nicht, Doherty für ihren Tod verantwortlich zu machen.
Verglichen damit war 2013 ein kreatives Feuerwerk. Mit SEQUEL TO THE PREQUEL, von Stephen Street in Paris produziert, erscheint nach sechsjähriger Pause endlich das dritte Babyshambles-Album. Und Wunder über Wunder: Es ist gut, stellenweise sogar großartig. Ein mitreißendes, witziges Indie-Rock-Kaleidoskop, das The Smiths, Velvet Underground und die Mersey-Beat-Kultband Shack aufleben lässt, uns poetische Impressionen aus einem Krankenhaus nahebringt, den moralischen Zeigefinger schwingt, aber auch darüber sinniert, warum „penguins great“ sind.
Als wir uns im Juli treffen, scheinen sich allerdings wieder die alten Abgründe aufzutun: Doherty ist zurzeit auf einer kleinen Akustik-Solo-Tour, sagte in letzter Minute aber zwei Shows in England ab. Er erschien auch nicht zum ursprünglich vereinbarten Interview – was mir Gelegenheit gab, mit seinen Kollegen Drew McConnell (Bassist, 34) und Mik Whitnall, (Gitarrist, 44) zu sprechen, die sich über ihren irrlichternden Freund mit überraschender Offenheit äußerten. McConnell ist davon überzeugt, dass sich wieder mal „irgendeine Art von Zusammenbruch abzeichnet“. Whitnall hegt die Vermutung, dass Doherty in Paris ein Faible für „China White“-Heroin entwickelt habe – den „Heiligen Gral der Junkies“.
Ich bin daher überrascht, dass er sich – zumindest anfangs – in erstaunlich guter Laune präsentiert, auch wenn der babygesichtige Dandy inzwischen merklich gealtert ist: frühzeitig ergraute Haare, die Zähne vom Nikotin vergilbt, ein Abszess auf der Backe -und die Arme, im kurzärmligen T-Shirt problemlos erkennbar, bis oben mit Einstichen übersät. Er spricht noch immer leise und verhalten, ist im Gespräch aber doch sprunghaft, widersprüchlich, irritierend und schnell eingeschnappt -vielleicht sogar mehr als je zuvor. Seine erste Story am heutigen Tag handelt von einem „Opium-Abenteuer“, das er am Tag zuvor in Prag erlebt hatte, eine irre Geschichte mit Strichern, Bettlern, Opium-Bauern und einem 70-jährigen Mann mit einem „No Future“-Tattoo, der sich seine Spritze in den großen Zeh setzt. „Musst du diese Story unbedingt erzählen?“, fragt sein Manager Andy Boyd. Der sitzt am Fenster, ins Gespräch involviert und fürsorglich nach vorne gebeugt – ein freundlicher, aber offensichtlich gramgeplagter Mann, der mit sporadischen Einwürfen das Schlimmste zu verhindern sucht oder aber nur noch resigniert lacht.
Nach Absage deiner Gigs waren die Fans stinkig. Ein Laden musste wegen „Störung der öff entlichen Ordnung“ geschlossen werden. Manchmal glauben deine Fans wohl, dir ginge alles am Arsch vorbei.
Niemand glaubt das – zumindest nicht die, denen es um die Musik geht. Die anderen – sollen sie doch reden. Das sind Leute, die immer zu spät sind, die grundlos ihren Job schmeißen, die ihre Familie zum Gespött machen und ihre Freunde ständig versetzen – ich kenn diese Typen. Jeder Musiker muss mal einen Gig absagen können. Dann sind diese Kids gleich so aufgeladen, dass sie alles in Schutt und Asche legen wollen. Sie sind komplett außer Rand und Band -und interessieren sich meist auch nicht dafür, was ich spiele. Es ist der galoppierende Wahnsinn.
Drew erzählte mir, dass du auf der Rolle gewesen seist und sechs Tage nicht geschlafen habest. Wie ist so was überhaupt möglich?
So lang war ich nun auch wieder nicht auf den Beinen.
ANDY: Glaub mir, es ist sehr gut möglich!
Dein Debüt als Schauspieler wurde von den Kritikern als Katastrophe bezeichnet. Genervt?
Natürlich bin ich genervt. Der Stoff war in meinen Augen ganz wunderbar – ein Highlight französischer Prosa. Die Kritiker haben’s in der Luft zerrissen, aber in 15 Jahren werden sie behaupten, dass es die gelungene Verfilmung eines historischen Stoffes ist.
Wie anders ist das Leben in Paris?
Für mich ist es der rettende Ausweg. Es gibt keine Yellowpress dort – und die Leute sind so unfreundlich, dass sie dich lieber gleich komplett ignorieren. Wenn sie dich aber an sich ranlassen, ist es wie eine große Familie. Mein Urgroßvater war Franzose – er ist in Paris begraben. Und als mein Vater (Peter, ein Major der britischen Army) im Dienst war und wir oft umziehen mussten, tat ich immer so, als würde ich eine französische Zeitung lesen. Und wenn ich in einer neuen Stadt eingeschult wurde, behauptete ich, mein Name sei Paris.
In der Presse war zu lesen, dass du und McCaulay Culkin -seit Kurzem ebenfalls in Paris ansässig – inzwischen eine Wohnung teilen würdet. Dabei hast du ihn wohl nur einmal getroffen, oder?
Ich hab ihn inzwischen mehrfach getroffen – ein angenehmer Zeitgenosse. Er brachte ein echtes Kunststück fertig: Es gibt nur eine Sache, mit der ich meinen neunjährigen Sohn Astile beeindrucken kann – bei meinen Konzerten hält er sich immer die Ohren zu -, und das ist der Film „Kevin – Allein zu Haus“. Er hatte also die Gelegenheit, McCaulay kennenzulernen und eine Stunde mit ihm zu plaudern. Um ehrlich zu sein, war ich in dem Moment selbst etwas beeindruckt.
Du hast ein exzellentes Album abgeliefert
(Scheinbar schockiert) Nicht zu fassen.
… das mich manchmal an Shack erinnert, vor allem auf „Farmer’s Daughter“, dem besten Track des Albums.
(Offensichtlich begeistert) Alright! (Er fängt an, eine Passage von „Streets Of Kenny“ zu singen, das 1999 auf Shacks Meisterwerk H.M.S. FABLE erschien.)“I don’t want a bag, I want a big one.“
Mik erzählte mir, dass du mit Stephen Street eine Auseinandersetzung hattest, in deren Verlauf er dich „Cunt“ nannte. Was war passiert?
Ich hatte seit sieben Tagen nicht geschlafen. Er sagte: „Hör zu, ich bin hier, um eine Platte zu machen, also spiel gefälligst nicht wie eine ‚Cunt‘.“ Er ist ein ruhiger, reservierter Typ, und wenn jemand wie er so was sagt … Ich fing an zu heulen. Ich hatte wirklich versucht, mein Bestes zu geben. Nicht jeder ist Johnny Marr.
Es sieht so aus, als wolltet ihr dieses Album ausnahmsweise professionell promoten und im Herbst auch eine längere Tour machen.
Im Moment sind alle heiß wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Die Plattenfirma, mit der wir seit vier Jahren nicht gesprochen hatten, sagte plötzlich: „Wir klemmen uns richtig dahinter. Coldplay machen diese Woche gerade ein Päuschen.“ Es ist einfach eine verlockende Vorstellung, wieder sagen zu können: „Scheiße aber auch, wir haben tatsächlich eine Handvoll Platten verkauft und ein paar geile Shows gespielt.“
Mik erzählte mir auch, du hättest Andy gesagt, dass dich keine zehn Pferde mehr auf eine Tournee zerren könnten. Du kämest mit der Belastung und den Terminen einfach nicht klar.
(Wird emotional) Oh nein, sag’s nicht. Ich hab mir doch gerade ein Bein ausgerissen, um allen klarzumachen, dass wir momentan wie eine Eins hinter der Band stehen. Ja, es ist alles eine Riesen-Scheiße. Ja, es ist alles ein Chaos. Aber nur, weil ich unpünktlich bin und ein bisschen chaotisch, heißt das doch noch lange nicht, dass mir die Band nicht am Herzen liegt. Verstehst du?(Tränen treten in seine Augen, er fängt zu weinen an.) Wenn ich klar im Kopf bin und gerade denken kann und wieder ausgeruht bin, werde ich zu allem stehen, was ich versprochen habe. Es ist nur Ich muss endlich erwachsen werden und so was wie Disziplin lernen. Weil ich bei Mik und Drew wirklich in der Schuld stehe, verstehst du? Ich liebe sie. Mik hat wahre Wunder vollbracht, um wieder clean zu werden. (Um 2008 herum hatte Mik ein ausgewachsenes Heroin-und Crack-Problem, das täglich rund 3 500 Euro verschlang.) Es ist wahnsinnig, dass Mik noch immer für mich da ist. Gottverdammte Scheiße.
Mik behauptet, dass du in Paris mit „China White“-Heroin in Berührung gekommen bist. „Ich bin endlich am Ziel meiner verdammten Reise angekommen“, hättest du gesagt. „Ich bin jetzt auf ,China White‘, in Paris, in Pigalle – genau das, wovon ich immer geträumt habe.“
(Bestürzt) Dann bin ich eben ein pathetisches Klischee. Das willst du mir doch in den Mund legen, oder? Aber so ist mein Leben nun mal gelaufen -geplant war das so nicht. Koks und Crack sind das eigentliche Übel. Man kann nun mal keinen Familienbetrieb mit Raketentreibstoff betreiben, man kann keine funktionierende Band am Laufen halten, wenn man auf Crack ist. Mit China White tauchen zumindest neue Songs am Horizont auf, verstehst du?
Libertines-Fans hatten immer gehofft, dass du der Morrissey ihrer Generation werden würdest. In ihren Augen hast du alles verspielt, alles den Drogen geopfert -anders als Amy Winehouse, die zumindest ein musikalisches Denkmal hinterließ.
(Genervt) Dann bin ich eben der gescheiterte Morrissey. Sollen sie doch daraus die Konsequenzen ziehen, sollen sie doch ein musikalisches Denkmal hinterlassen -das Denkmal, zu dem ich nicht fähig war. Und hoffentlich geben sie dann endlich Ruhe und finden ihren Frieden.
ANDY (zitiert „Don’t Look Back In Anger“ von Oasis):“Don’t put your life in the hands of a Rock’n’Roll band.“
PETE: Du sagst es. Dieser Bastard. Ich wünschte mir, ich hätte diese Zeile geschrieben. Manchmal hab ich mir wohl sogar eingeredet, sie selbst geschrieben zu haben.
Labiler Lebenswandel kontra musikalisches Denkmal: Muss es wirklich immer ein Entweder-oder sein?
Es gibt Tage, an denen ich definitiv destruktiv bin – und aus den Tagen werden manchmal Wochen. Wird es dann ein Entweder-oder? Okay, in den meisten Fällen ist es das vielleicht, aber im Moment bin ich im Hier und Jetzt. Ich funktioniere. Herrgott noch mal, wir haben gerade 19 Songs aufgenommen – ein ganzes, funktionierendes Album.
Du musst jetzt nur noch deine Termine einhalten – das ist schon alles.
Ich weiß. Das ist die Herausforderung. Viele Termine! 72 Auftritte in 64 Tagen.
Die englische Presse berichtet, du habest Zigarettenkippen von Kate und Amy gesammelt, die du nun in einer Galerie in Camden verkaufen wolltest …
(Ein vernichtender Blick) Das war ein Witz! Sollen sie’s doch für bare Münze nehmen – das tun sie ja immer. Glaubst du wirklich, ich hätte Kippen gehortet? Sie schrieben auch mal, ich hätte einem bewusstlosen Mädchen toxische Substanzen gespritzt. Glaubst du wirklich, ich sei zu so etwas fähig? Und trotzdem stand’s auf der Titelseite des fucking „Mirror“.
Ich hab mich immer gefragt, ob du ein bisschen so bist wie dein großes Idol George Best: Das „normale“ Leben ist für einige Menschen so abschreckend, dass sie’s nicht einmal in Erwägung ziehen. George Best nutzte 2002 seine neue Leber dazu, sich noch drei weitere Jahre die Kante zu geben.
(Angewidert) Aber er war gleichzeitig auch ein begnadeter Fußballer! Nein, du kannst nicht alle Leute einfach immer nur runtermachen. Wir alle haben die Aufgabe, uns gegenseitig zu unterstützen. Wir alle haben unsere Schwächen. Wir alle sitzen im gleichen Boot. Das „normale“ Leben … Ich führe ein unfassbar normales Leben. Es ist alles so reglementiert, so zu Fleisch und Blut geworden, meine Form des Chaos … Es ist nicht mal ein richtiges Chaos mehr. Mein Chaos läuft mit militärischer Präzision ab. Ich weiß genau, was für mich funktioniert, was ich vermeiden sollte und um wen ich besser einen großen Bogen schlage.
Was solltest du vermeiden?
Diese dunkle Macht, die ich den „Rainman“ nenne. Es gibt da draußen jemanden, der mich ständig in den Knast stecken will. Sie wollen mich festsetzen, weil ich in einem Video angeblich etwas qualme, was nicht mal existierte. Ich schwöre dir, dass ich in 50 Jahren in der Lage sein werde, viele dieser Leuten zu verklagen. Man kann nicht jemanden ohne Grund ins Gefängnis stecken! Okay, sie argumentieren mit dem Besitz einer Droge, aber dieser letzte Prozess – die Art und Weise, wie da argumentiert wurde -war einfach gespenstisch. Meine Freundin starb, verdammt noch mal. (Er fängt hemmungslos zu weinen an.) Meine Freundin Robyn, die mir wirklich so viel bedeutete. Ich war nicht mal bei der Beerdigung erwünscht, weil ich in den Zeitungen als derjenige dargestellt wurde, der an ihrem Tod schuld sei. Es ist einfach abgefuckt, einfach irrsinnig, wenn an deinem Leben so herumgezerrt wird. Ob da nun ein Gig abgesagt wird oder nicht, spielt doch überhaupt keine Rolle. Dieser Popanz, den man um mich herum aufgebaut hat, ist einfach ekelig, weil ich erst dadurch unter die Räder komme. Deshalb muss ich mich manchmal um mich selbst kümmern und mich irgendwo verkriechen. Verstehst du? Gottverdammte Scheiße. Ich hatte meinen Frieden gefunden – aber jetzt legt man mir nahe, wieder an einen Ort zurückzukehren, an den ich nicht gehen will. Ich muss diese Sachen (Interviews) machen, weil ich nun mal der bin, der ich bin Was soll ich machen?(Er reißt sein T-Shirt nach unten und zeigt mir das Babyshambles-Tattoo auf seiner Brust.) Ich mag nicht mal Musik!
ANDY: Nun mach aber mal halblang, Pete.
PETE: Was soll ich denn machen? Was ich mag, ist „Sailor Jerry’s“ – gewürzter Rum, ein paar Eiswürfel Weißt du was? Lass uns los und ein paar „Sailor Jerry’s“ kippen.
Wir gehen um die Ecke in ein Pub und setzen uns draußen an einen Holztisch. Er trinkt Guinness und ein paar Gläschen Rum – und scheint im Kopf plötzlich erheblich klarer zu sein als zuvor. Er ist „erleichtert“, dass wir das offizielle Interview hinter uns haben, „weil der Druck einfach so groß ist“. Er ist froh, seinen Gefühlen freien Lauf gelassen zu haben. „Du hast es wirklich aus mir rausgekitzelt“, sagt er und zündet sich eine überdimensionale Zigarre an. „War nicht so geplant. Aber es ist gut, reden zu können, es einfach rauslassen zu können.“
Erzähl mir von deinem Leben in Paris.
Ruhig. Es können Wochen vergehen, ohne dass ich einen Kontakt zur Band oder zum Management habe – ich bin von allem abgeschnitten. Ich brauchte das einfach. Ich muss lernen, mein Leben zu leben, ohne mich in dem Wahnsinn und Chaos zu verheddern. Ich treffe Freunde, schaue mir alte Schwarz-Weiß-Filme an – Humphrey Bogart, Sachen über den Zweiten Weltkrieg. Ich spiele viel, aber immer nur auf der Akustischen. Ich muss meine Rechnungen zahlen, also muss ich als Musiker arbeiten. Ich hab eine Freundin. Sie ist Französin – völlig straight, keine Drogen.
Und wie funktioniert das?
Sie ist inzwischen perfekt, wenn’s ans Aufkochen von Drogen geht. Nee, natürlich nicht!
Angeblich hast du die ganzen Einnahmen aus der Libertines-Reunion verjubelt. 1,5 Millionen Pfund?
Nie und nimmer! Nach Steuern und dem ganzen Scheiß waren es 260 000 auf die Hand. Aber zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich die Steuer nicht zahlen und musste Insolvenz anmelden. Es gab ein Angebot aus Japan, noch mehr Shows zu spielen – eine in Tokio, eine im Hyde Park -, aber das hat sich in Luft aufgelöst. Ich glaube, die Libertines sind eine Band, die sich nie managen lassen wird. Leute, die nie und nimmer zusammenkommen werden, um noch einmal ihre Jugend zu durchleben. Und das war meine Jugend – wie eine Explosion in meinem Herzen.
Als Amy starb, schrieb Komiker und Ex-Junkie Russell Brand einen bewegenden Nachruf: „Sucht ist eine ernst zu nehmende Krankheit, an deren Ende Gefängnis, Irrenhaus oder Tod steht Wir müssen überdenken, wie die Gesellschaft Süchtige behandelt – nämlich nicht als Kriminelle, sondern als Kranke, die unserer Hilfe bedürfen.“
Heute ist es ja fast schon so was wie ein spirituelles Verbrechen, Junkie zu sein: Du bist der Abschaum, die niedrigste Stufe der Gesellschaft.
Wie würdest du Sucht definieren?
In vielerlei Hinsicht dokumentiert es die Tatsache, dass du für dich einen sehr egoistischen Lebenswandel gewählt hast. Zum Beispiel, was die Beziehung zu meinen Kindern betrifft. (Im Dezember 2011 wurde er erneut Vater: Ex-Girlfriend und Model Lindi Hingston brachte in Südafrika seine Tochter Aisling zur Welt.) Mein neunjähriger Sohn – ich kann einfach nicht für ihn da sein.
Stellt Astile Fragen zu deiner Sucht?
Absolut. Er ist ein schlaues Kerlchen. Bei der Spanien-Tournee begleitete er uns ein paar Tage im Bus – und kriegte natürlich alles mit. Einmal sagte er: „Und, hast du deine Medizin schon genommen?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. In seinen Augen ist es einfach eine traurige, üble Geschichte. Du bist nicht die liebenswerte Person, die ein Kind in dir sehen möchte.
Du sagtest früher einmal, dass du dich nicht ändern würdest, bis du ganz unten angekommen bist. Glaubst du, dass du dich diesem Status langsam näherst?
Im Moment – nein. Dies ist nun mal mein Leben – und ich verstehe es meisterhaft, meine eigenen Gefühle zu manipulieren. Ich hatte nie eine andere Wahl.
Was bedeutet Freiheit heute für dich?
Was es für jeden anderen auch bedeutet: von nichts und niemandem zu etwas gezwungen zu werden, was man nicht machen will.
Und, fühlst du dich frei?
Nicht immer, nein, aber doch meistens. (Ein Lächeln huscht über sein Gesicht.) In früheren Zeiten war’s doch so: Wir saßen draußen vor den Wirtshäusern, diskutierten lautstark über die Freiheit und ballerten mit Pistolen in die Luft. Heute kriegt man schon Ärger, wenn man mit seinem Auto schneller als 57 km/h fährt. Die Welt ist ein überreguliertes, seelenloses Schlachtfeld geworden. Aber bei allem Gerede, trotz aller Tränen -es ist noch immer die Musik, die zählt.
Du musst eigentlich nichts anderes tun, als bei deinen Shows selbst aufzukreuzen.
Ja, ich muss nur aufk reuzen. Du hast völlig recht.
Albumkritik S. 89